Magische Bilder

1.

David Lynch begann seine künstlerische Karriere als Maler. Bevor er sich dem Film zuwandte, studierte er von 1965 bis 1967 Kunst und Malerei an der Pennsylvania Academy of Fine Arts in Philadelphia und zeigte sich in dieser Zeit stark von Künstlern wie Jackson Pollock, Francis Bacon und Edward Hopper beeinflusst, deren unterschiedliche Stile sein Gespür für visuelle Gestaltung und Ausdruckskraft schärften. Auch nach Beginn seiner Filmarbeiten 1967 zog es ihn immer wieder zur Malerei und zur Photographie als eigenständigen visuellen Darstellungsformen zurück, wovon beispielsweise der 1994 publizierte Bildband „Images / Bilder“ (als deutsche Veröffentlichung bei Schirmer/Mosel, München) zeugt.

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Kein Wunder also, dass in Lynchs Filmen den Bildern, genauer: den bildhaften Qualitäten einzelner Einstellungen, ein besonderes Gewicht zukommt, das komplementär zu seiner stets sorgfältigen Tonmontage Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur die narrative Funktion seiner Bilder im Kontext der Filmhandlung zählt, sondern vor allem auch die eigenständige visuelle Kraft und das Potential, Stimmungen durch eine spezifische mise-en-scène jenseits erzählerischer Zusammenhänge zu erzeugen. Man könnte zahlreiche Einstellungen seiner Filme aus dem Erzählzusammenhang lösen und erhielte dabei ausdrucksstarke Photographien, Momentaufnahmen einer Lebenswelt, die – „wild at heart and weird on top“ (Lula in Wild At Heart, 1990) – Lynchs spezifischen filmischen Kosmos in konzentrierter Form widerspiegeln: Menschen in verlassenen Industrielandschaften, Figuren in dunklen Räumen, großflächige Interieurs mit wenigen, aber präzisen Details, die an Abstraktionen grenzen und gleichwohl auch expressive Konnotationen auszulösen vermögen. Eine Welt, in der Menschen zwar leben, aber nicht zuhause sind; stilisierte Räume und karge Stilleben, die Leerstellen suggerieren, in denen sich Ängste wie auch Sehnsüchte in undurchdringlicher Dunkelheit zusammenballen. Hier meint man den Einfluss der Bilder Edward Hoppers zu spüren, der in einzigartiger Weise die Befindlichkeit des Individuums in der modernen Gesellschaft zu gestalten vermochte, die Kontraste und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Mensch und Architektur, zwischen monochromen Flächen und einzelnen, isolierten Figuren. Die Melancholie Hoppers ist auch den Filmbildern Lynchs anzumerken, vor allem in den Innenaufnahmen in Eraserhead (1977), Blue Velvet (1986) und Lost Highway (1996), in denen die Charaktere ganz den düsteren Korridoren und Zimmern ihrer Behausungen ausgeliefert sind. Diese Innenräume sind mehr als nur architektonische Räume; sie sind Seelenräume, Innenansichten verletzlicher oder bereits verletzter Menschen.

Das Einzelbild als wirkungsvolles Artefakt tritt bei Lynch jedoch nicht nur als Filmbild auf, das gewissermaßen als frame aus dem filmischen Gesamtzusammenhang herausgenommen wird; es spielt auch als Photographie auf der thematischen Ebene seiner Filme eine Rolle. Sozusagen zur Kerneinheit, zur Monade des Kinos zurückkehrend, inszeniert Lynch Photographien als bedeutungstragende Elemente der jeweiligen Filmhandlung und verweist damit gleichsam selbstreflexiv auf die grundlegenden Gestaltungsbedingungen des Mediums. Lynchs Filme sind dadurch nicht nur Teil einer (post-)modernen Kultur der Bilder, sondern reflektieren darüber hinaus ihren eigenen Status und ihre Funktion als Schnittstellen kollektiver Vorstellungskraft, visueller Repräsentation und menschlicher Wahrnehmung im Kontext dieser visual culture.

2.

Photographie ist die Basis der Filmwirkung. Die technische Reproduzierbarkeit (Benjamin) des photographischen Bildes bedingt grundlegend unsere Wahrnehmung des Mediums Film als Kunstform sowie unsere Wahrnehmung der filmische Realität, bzw. der filmischen Fiktion als Ausdruck quasi objektiver Wirklichkeitserfassung; der Film erscheint als „die Vollendung der photographischen Objektivität in der Zeit.“ (Bazin, 39) In seiner Theorie des Films (1960) betont auch Siegfried Kracauer die zentrale Bedeutung der photographischen Abbildung und Wiedergabe von Realität für den Film als sowohl technisches wie auch artistisches Medium. Die Affinität der Photographie zum Zufälligen, zum Unmittelbaren und zum Unbestimmbaren sowie der implizite Verweis der photographischen Abbildung auf die Endlosigkeit des Objekts jenseits der aufnehmenden Linse konstituieren, so Kracauer, den besonderen Reiz der photographischen Kunst und – daraus abgeleitet – den ästhetischen Mehrwert der kinematographischen Kunst. Und obwohl der filmischen Aufnahme natürlich in der Regel nichts Zufälliges anhaftet, mag die Wirkung auf die Zuschauer durchaus in diese Richtung tendieren. Den Authentizitätseffekt haben Photographie und Film gemeinsam; die photographische Grundlage des Films führt zur naturalistischen Wirkung des Films und zu unserem Glauben an eine kinematographische Realität, auch wenn die Bilder, die wir im Kino sehen, artifiziell sind und zuweilen vollständig der virtuellen Welt eines Computers entstammen.

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Bei Lynch treten Photographien oder gezeichnete Bilder thematisch nicht so dominant in den Vordergrund wie beispielsweise bei Michelangelo Antonioni (Blow-Up, 1967) oder bei Peter Greenaway (The Draughtsman’s Contract, 1982), wo diese medialen Vorformen des Kinos ganz entschieden den Handlungsverlauf bestimmen: Sie dienen dazu, in ihrer seriellen Anfertigung rätselhafte Geschehnisse (Verschwörungen und Morde) auf eine Weise zu encodieren, die eine unmittelbare Decodierung nicht mehr ermöglicht, sondern den detektivischen Blick und die Interpretationsgabe der jeweiligen Protagonisten – und dadurch natürlich auch der Zuschauer – herausfordert. Die Zeichnungen/Photographien werden hier zu zentralen Metaphern der visuellen Kunst und der Wiedergabe von Wirklichkeit und erzeugen als Signifikanten der filmischen Repräsentation Bedeutungsebenen, die in selbstreflexiver Weise Wahrnehmungsprozesse offen legen und die Stellung des Menschen als Bilder produzierendes, Bilder rezipierendes und Bilder interpretierendes Subjekt in unserer visuellen Kultur problematisieren.

In Lynchs Filmen erscheinen Photographien eher nebensächlich, ohne jedoch ihre Sinnhaftigkeit und ihre selbstreferentielle Verweisfunktion einzubüßen. Als Keimzelle der filmischen Darstellung evozieren Photographien auch bei Lynch einen impliziten Diskurs über die Macht des Bildes. In Lynchs Filmwelt sind Photographien für die jeweiligen Protagonisten überaus bedeutsam, sie entfalten bisweilen ein fast magisches Eigenleben und eine Kraft, die über ihre eigentliche Repräsentationsfunktion und ihren Wert als reine Abbildungen einer vor-photographischen Realität weit hinausgeht. Sie sind Abbilder der Vergangenheit, konserviert für die Zukunft, aber mit gravierenden Auswirkungen auf die Gegenwart.

3.

In Eraserhead begegnet uns Mary X, Henrys Freundin und Mutter seines missgestalteten Kindes, zuerst als Porträtphoto. Nachdem Henry gehört hat, dass er zum Abendessen bei Familie X eingeladen ist, holt er ihr Bild aus einer Schublade hervor. Das Bild aber ist zerrissen, Zeichen einer schon vergangenen und unglücklich beendeten Affäre. Noch bevor wir also Mary selbst kennen lernen, wissen wir bereits, dass sie ein Teil von Henrys Vergangenheit ist und ein Teil jener Leidensgeschichte, die der alptraumhaften und traumatischen Welt des Films unausgesprochen zugrunde liegt. Und mehr noch: Wir ahnen bereits, dass die Beziehung der beiden unter einem schlechten Vorzeichen steht und unter den gegebenen Verhältnissen nicht glücklich gedeihen kann.

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In einer Großaufnahme setzt Henry die obere und untere Hälfte des zerrissenen Photos zusammen, und gleich darauf sehen wir Mary selbst am Abend hinter einem Fenster des elterlichen Hauses sitzen und Ausschau nach Henry halten. Dabei ist nur ihr Kopf im Fensterrahmen erkennbar, so wie auch auf der oberen Hälfte des Photos nur ihr Kopf abgebildet war. Es scheint, als sei die Photographie der Frau Wirklichkeit geworden, als sei das statische Photo zu einem bewegten Bild des Filmstreifens und somit zu einer (innerfiktional) realen Figur der Filmhandlung geworden. Vielleicht ist aber auch nur das Photo Realität und Mary als handelnde Person nur eine gedankliche Vorstellung Henrys, eine Phantasie des verlassenen Liebhabers, ins Bewusstsein gerufen durch die Rekonstruktion der zerrissenen Abbildung.

In The Elephant Man (1980) ist der wertvollste Besitz des von seiner Krankheit gezeichneten und sozial völlig isolierten John Merrick eine Photographie seiner Mutter, die er an ihrer Stelle abgöttisch verehrt. In einer Welt, die ihn ablehnt, ihn fürchtet oder mit Spott behandelt, ist das Bild der abwesenden Mutter der einzige Trost für den einsamen Menschen. Als Merrick am Ende des Films einschläft und stirbt – wobei dieser freiwillige Tod selbst auch durch ein Bild, nämlich die Zeichnung eines schlafenden Kindes, inspiriert ist –, schwenkt die Kamera über das Photo seiner Mutter zum offenen Fenster. In einer Überblendung sehen wir das Weltall, hören die Stimme der Mutter („Never, never! Nothing will die …“) und sehen ihr Antlitz in einer leuchtenden Aureole. Im Tode ist Merrick mit seiner Mutter vereint, der Mensch kehrt im ewigen Kreislauf des Kosmos zu seinem Ursprung zurück, und das stumme Versprechen der Photographie wird eingelöst.

In Dune (1984) lernen wir zu Beginn den jugendlichen Helden Paul Atreides kennen, als er vor einem Computermonitor sitzt und sich Bilder und Filme von dem fernen Wüstenplaneten Arrakis ansieht. Bevor er sich also mit seiner Familie auf die weite Reise begibt und nach Arrakis übersiedelt, bevor er mit der Realität des Wüstenplaneten, mit dessen menschenfeindlichen Einöden, riesigen Sandwürmern und vielfältigen Gefahren konfrontiert wird, bevor sein Abenteuer (und damit eben auch die abenteuerliche Filmhandlung selbst) beginnt, betrachtet er all diese Dinge auf Bildern. Nach der Projektion auf dem Computerbildschirm zeigen sie sich in Pauls Träumen, dann erst werden sie zu physischer Realität. Was sich als phantastische Initiationsgeschichte entwickelt, in deren Verlauf Paul allen Intrigen und Todesfallen seiner Gegner trotz, zum Messias der Bewohner von Arrakis und schließlich zum mächtigen Führer eines Heiligen Krieges wird, kündigt sich bereits auf den Abbildern einer entfernten und gleichsam irrealen Wirklichkeit und in deren träumerischen Repräsentationen an. Auch hier lässt sich die Frage stellen, inwieweit die perzipierten Bilder als Zeichen einer anderen Realität und als Objekte der Wahrnehmung Pauls die weitere Entfaltung dieser Realität als dramatische Filmstory und als räumlich und zeitlich organisierte Handlungswirklichkeit des zuvor wahrnehmenden Subjekts konstitutiv bedingen, mit anderen Worten: inwieweit die aufregenden Geschehnisse in der fremden Welt auf einer meta-narrativen Ebene lediglich der Imagination des durch photographische und kinematographische Bilder inspirierten Paul entspringen – der narzisstische Tagtraum eines Heranwachsenden, ein Science Fiction-Fantasy-Film als figurativ gestaltetes coming-of-age-Psychodrama, inklusive ödipaler Verstrickungen und regressiver Allmachtsphantasien, und damit bereits eine Vorausschau auf den nachfolgenden Film Blue Velvet, in dem diese Zusammenhänge sehr viel deutlicher und akzentuierter hervortreten.

Sandy, eine der beiden weiblichen Protagonistinnen in Blue Velvet, wird (ebenso wie Mary in Eraserhead) als Photographie im Wohnzimmer ihrer Eltern in die Handlung eingeführt, bevor sie selbst kurze Zeit später aus dem Dunkel der Nacht vor Jeffreys Augen auftaucht; und es scheint so, als ob Jeffreys Blick auf dieses Photo und seine entzündete Phantasie ursächlich für das Erscheinen der Figur Sandy in der Filmhandlung verantwortlich seien. Dieses Auftauchen der Figuren aus Schatten oder Dunkelheit ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in Lynchs Filmen. Aus völliger, undurchdringlicher Schwärze treten die Personen nach vorne ins Licht, gewinnen an Konturen bis sie deutlich erkennbar sind, so als ob sie selbst gerade wie Photographien oder wie ein Filmstreifen im chemischen Bad entwickelt würden. Wie das photographische Trägermedium selbst, auf dem sie in Erscheinung treten und uns als fiktionale Wirklichkeit präsentiert werden, werden sie durch einen Entwicklungsprozess zwischen Dunkelheit und Licht und zunehmende Kontrastierung gleichsam zum Leben erweckt und so für die Protagonisten der Filme zu unmittelbarer Realität. Eine filmische Geburt dieser Art, die selbstreflexiv auf den phototechnischen Ursprung und die photographische Beschaffenheit der Filmfiguren verweist, erleben wir nicht nur bei Sandy in Blue Velvet, sondern auch bei der verführerischen Nachbarin Henrys in Eraserhead und bei Fred Madison in Lost Highway.

Am Anfang war das Photo, dann ist das Photo Fleisch geworden … Für den jungen Helden in Dune werden die Bilder des Wüstenplaneten zu einer gefahrvollen Wirklichkeit, in der er sich kämpfend bewähren muss; für die jungen Männer in Eraserhead und Blue Velvet werden die Abbilder von Frauen zu realen Wesen. Die Macht der Bilder auf den Betrachter erzeugt diesen Pygmalion-Effekt und zeigt so gleichzeitig den Konnex zwischen Bildlichkeit, Imagination und Perzeption sowie Bedeutung und Einfluss der visuellen Stimulation in unserer an visuellen Reizen und plakativen Bildern wahrlich nicht armen Kultur. Lynch, der Maler, der Filmemacher, der Sprachskeptiker, zeigt Bilder als magische Bilder, Photographien als lebendige Bilder, die nicht nur stumm und passiv Vergangenes repräsentieren, sondern aktiv ins gegenwärtige Leben eingreifen und die fiktive Wirklichkeit der Filmwelt konstituieren. In analoger Weise lassen sich Filme selbst als konstituierende Elemente unserer Medienrealität begreifen, als ästhetisch und ideologisch prägende Einflussgrößen der populären Kultur, als Teil unserer kollektiven Imagination und somit als Teil unserer nicht nur physiologisch, sondern auch kulturell determinierten Wahrnehmungssysteme. So wie einzelne Photographien die Wahrnehmung der Protagonisten in Lynchs Filmen bedingen und somit gleichsam deren Wirklichkeit generieren, wirken Filme als Konglomerate visueller Reize und Informationen und in ihrer Funktion als sinnstiftende Kulturprodukte auf das Kinopublikum. Sie werden nicht nur Ersatz für unsere Träume (Hofmannsthal), sondern mehr noch Ersatz für unsere Realität (Baudrillard). Die „Apparate […], aus denen die blendenden und betäubenden Bilderfluten strömen […], die wir überall mitschleppen, müssen gar nicht mehr vor unseren Bäuchen baumeln. Wir haben sie alle bereits im Bauch, und sie knipsen, rollen und winden sich in unserem Inneren. Wir sind der tönenden Bilderflut ausgeliefert.“ (Flusser, 71) Flussers Beobachtung, die wie die Beschreibung eines David Cronenberg-Szenarios anmutet, wie die medienphilosophische Pointierung der Cronenbergschen Konzeption des new flesh – des neuen, von modernen Kommunikationstechnologien durchdrungenen und transformierten Körpers –, erweist sich als gültiger Befund sowohl für die Charaktere in Lynchs Filmen, die sich ihre eigenen Bilder und Bildwelten erschaffen, als auch für uns, die Rezipienten der Lynch-Filme, die in immer stärkerem Maße von medialen Bildern und deren Repräsentationen in unserem Inneren beherrscht werden.

4.

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In Wild at Heart (1990) verschwindet am Ende wie von Geisterhand das Porträt von Lulas krimineller und krankhaft dominanter Mutter von einem Photo, löst sich dampfend und mit einem verhallenden Schrei in Luft auf wie die böse Hexe aus Victor Flemings Wizard of Oz (1939) unter dem Einfluss von Wasser. Dieses magische Verschwinden signalisiert bildhaft, dass ihr verderblicher Einfluss auf Lula und Sailor überwunden, ihre Macht gebrochen ist. Für die Augen der Zuschauer wird sie gleichsam visuell ausgelöscht. Erleben wir in Elephant Man die kosmische Transzendierung des Bildes der guten Mutter, die Verabsolutierung ihrer tröstenden Liebe, so wird uns hier die Tilgung des Bildes der bösen Mutter und damit der Verlust ihrer destruktiven Kraft anschaulich vorgeführt. Geradezu archetypisch im Jungschen Sinne mutet der Einsatz der Bilder einer (abwesenden) guten Mutter einerseits und einer (übermächtigen) bösen Mutter andererseits an. Aus dem kollektiven Unbewussten entsteigen die Seelenbilder des Mütterlichen in unterschiedlichen Ausprägungen und nehmen Gestalt an, um in ihren spezifischen Funktionen auf die zentralen Filmfiguren positiv, bzw. negativ einzuwirken.
In Twin Peaks – Fire Walk With Me (1992) verschwindet ein Engel von einem Kinderbild der tragischen Heldin Laura Palmer und erscheint am Ende des Films als leibhaftiger Schutzengel an ihrer Seite in dem geheimnisvollen roten Zimmer, dem Zwischenreich der Toten. Die kindliche Vision einer rettenden Instanz ist tröstende Gewissheit geworden. Der naive Kinderglaube ist einer surrealen Verkörperung gewichen.

Bilder verkörpern eine andere Art von Wahrheit, eine subjektive oder emotionale oder unbewusste Form der Wahrheit. Sie kommentieren durch ihre Beschaffenheit oder durch ihre unerklärlichen Veränderungen das Geschehen, sie machen Zustände oder Vorgänge unter der Oberfläche der faktischen Realität sichtbar. Bilder und Photographien mögen nicht immer Objektivität wiedergeben, aber sie lügen nicht!

In Lost Highway werden die mysteriösen Videobänder, die Fred und Renee Madison vor ihrem Haus finden, zum Auslöser der erschreckenden Ereignisse. Die Bildinformationen der Videos steigern sich von anfänglicher Belanglosigkeit zu den Darstellungen des blutigen Mordes an Renee, wobei ihre Zugehörigkeit zu objektiver oder rein subjektiver Realität ungewiss bleibt. Gleichwohl bringen sie das Unbehagen des entfremdeten Ehepaares und die bis in den Wahnsinn führende Eifersucht Freds zum Ausdruck. Auf einer Photographie in der Wohnung des Zuhälters Andy sehen wir zunächst die beiden zentralen Frauenfiguren aus Lost Highway, Renee und Alice, Seite an Seite. Gegen Ende des Films sehen wir das Photo noch einmal, doch diesmal ist darauf nur noch Renee abgebildet, wodurch Alice als reine Phantasie, als eine subjektive Projektion Madisons entlarvt wird. Auch hier entfaltet sich durch photographische Abbildungen eine zweite Realitätsschicht, die auf gleichzeitig verwirrende und erhellende Weise die emotionale Verfassung des Protagonisten Madison und seine verzerrte Wahrnehmung verdeutlicht (“I like to remember things my own way. How I remember them, not necessarily the way they happened.”).

„This is the girl.“ Mit diesen Worten wird in Mulholland Drive (2001) das Photo einer jungen Frau in zwei verschiedenen Szenen vorgelegt und kommentiert, bei einem Filmcasting und bei einem Tötungsauftrag. Einmal soll Camilla die Hauptrolle in einem ambitionierten Filmprojekt spielen, d.h. also durch den Selektionsprozess des Castings, durch die Wahl ihrer Photographie zur Verkörperung einer fiktiven Figur in einem Film innerhalb des Films werden und dieser Figur Leben einhauchen, das andere Mal wird sie durch ihr Abbild als Zielobjekt eines Racheakts aus enttäuschter Liebe identifiziert, wird sie dazu verurteilt, das Opfer eines gewaltsamen Todes zu werden. Beide Ereignisse, die auf unterschiedlichen Realitätsebenen – Traum und Wirklichkeit – stattfinden, werden durch die Präsentation des Photos und die gleichen Worte miteinander verknüpft und zeigen durch diese Gleichsetzung die Gefährdung der abgebildeten Person, die sich der Kamera preisgibt und Teil der fiktiven Glamourwelt der Kinoindustrie zu werden wünscht.

This is the girl – es sind immer die Photographien junger Frauen, die im Kontext der Filmhandlung eine besondere Bedeutung erhalten: Mary X in Eraserhead, Sandy in Blue Velvet, Renee/Alice in Lost Highway und Camilla in Mulholland Drive. Als Abbilder (Wunschbilder? Traumbilder? Seelenbilder?) des Weiblichen – archetypische Verkörperungen des Weiblichen, die von leblosen Bildern oder Formen des kollektiven Unbewussten zu lebenden Charakteren werden? – inspirieren und gefährden sie die männlichen Protagonisten der jeweiligen Filme. In Mulholland Drive verschiebt sich die Perspektive; hier nehmen die Wunschbilder aus weiblicher Sicht und aus den Affekten eines selbstquälerischen lesbischen Abhängigkeitsverhältnisses heraus Gestalt an. Gleichwohl erweist sich auch in diesem Film, der zwischen Sein und Schein der Traumfabrik Hollywood angesiedelt ist und von den gescheiterten Hoffnungen, den Sehnsüchten und Rachephantasien der jungen Schauspielerin Diane erzählt, die Photographie einer Frau als bedeutsamer Schnittpunkt verdrängter Wahrheiten und unbewusster Prozesse sowie als sinnfälliges Symbol für das Medium selbst und für die Ambivalenz der verlockenden Bilderwelten. Wie bei dem großen Vorbild, Billy Wilders Sunset Boulevard (1950), geben Setting und Handlung des Films die selbstreflexive Struktur geradezu vor. Hier mischen sich Realität und Traum, Imagination und Alptraum; eine verlorene Liebe lebt in der Phantasie weiter, und der Tod wird als Realität ausgeblendet. Abbilder der Wirklichkeit und Repräsentationen von Wunschvorstellungen verdrängen die bittere Realität und gerinnen zu Momentaufnahmen eines fast perfekten Lebens. Bilder und Versatzstücke des Hollywood-Kinos formieren den melodramatischen Plot einer Liebes- und Detektivgeschichte, die sich plötzlich als Fiebertraum und narzisstische Phantasie einer verzweifelten und zutiefst enttäuschten Frau entpuppt. Diane ist ein Opfer trügerischer Bilder und Vorstellungen, das sich, ausgestoßen aus dem künstlichen Paradies der Traumfabrik, vorübergehend ein eigenes Paradies aus Trugbildern erschafft. Und erst wenn der Traum zu Ende ist, wenn der American Dream von Erfolg und Happiness ausgeträumt ist, beginnt der Alptraum.

Mulholland Drive thematisiert in Inhalt und Form die Traum- und Scheinwelt Hollywoods, den Einfluss von fiktiven Bildern und kollektiven Phantasien, die zu lebendigen Gebilden werden und individuelle Wahrnehmung kontaminieren, und schließlich die bestürzende Ernüchterung, die einsetzt, wenn Fiktion und Realität wieder voneinander geschieden werden. Darüber hinaus wird die prinzipielle Verknüpfung zwischen unbewusstem Wissen, verdrängten Wahrheiten und seelischen Prozessen, die sich in subjektiven Perzeptionsformen konkretisieren, und dem Ausdrucksmedium Film fühlbar.

Lynchs komplexes Spiel der selbstreferentiellen Inszenierung von Bildern erreicht mit dieser kritischen Reflexion des eigenen Mediums einen Höhepunkt. Indem die Photographie der Schauspielerin sowohl auf ihre Karriere im Filmgeschäft als auch auf ihren Tod durch den Auftragskiller verweist, macht sie die trügerische Illusion einer heilen (Film-)Welt sowie die Gefahr der Verwirrung verschiedener Wahrnehmungsformen und –ebenen deutlich. Filmstar und Mordopfer werden durch das Photo und die Verbindung der Realitätsebenen identisch, der Beginn einer Traumkarriere und das Ende des Lebens fallen zusammen. Bilder können im Film und durch den Film lebendig werden – umgekehrt können Menschen aber auch durch den Film zu bloßen Abbildern werden. In dieser doppelten Verweisfunktion enthüllt das Bild – wie auch die Abbilder in anderen Lynch-Filmen – eine Wahrheit, die auf der objektiven oder sprachlichen Handlungsebene unausgesprochen bleibt, und präsentiert so gleichsam die expressive visuelle Kraft des Kinos, die ambivalente Magie bewegter Bilder.

Literatur:

  • Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve, 1978.
  • André Bazin: „Ontologie des photographischen Bildes.“ In: Was ist Film? Herausgegeben von Robert Fischer. Berlin: Alexander, 2004, S. 33-42.
  • Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.“ In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977, S. 136-169.
  • Vilém Flusser: „Bilderstatus.“ In: Medienkultur. Herausgegeben von Stefan Bollmann. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer, 2005, S. 69-82.
  • Hugo von Hofmannsthal: „Der Ersatz für die Träume.“ In: Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Tübingen: Niemeyer, 1978, S. 149–152.
  • Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Herausgegeben von Karsten Witte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985.
Autor: Matthias Hurst

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