Schuld & Sühne

Er trage keine Waffe mehr, sagt Abu Jandal. Jetzt trage er nur noch einen Stift. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, denkt sich da so mancher, und man möchte meinen, der ehemalige Bodyguard Osama Bin Ladens habe sich besonnen und seinen Hass gegen die westlichen „Ungläubigen“ aufgeben. Doch Abu Jandal ist regelmäßig Gastgeber für am Jihad interessierte Jugendliche, um ihre Fragen zu beantworten, und ihnen beizubringen, wie man vernünftig lebt, sich organisiert, mit anderen Menschen umgeht. Er lehrt geschicktere Gotteskrieger, denn er möchte sich dem Feind zwar gerne auf dem Schlachtfeld von Angesicht zu Angesicht stellen, doch Terrorangriffe initiieren möchte er nicht. Nicht jeder kann oder sollte ein Krieger sein, meint er, denn die Bewegung benötigt auch kluge Köpfe.

Als Abu Jandal im Jahre 2001 von den Terrorangriffen des 11. September hört, sitzt er in Haft im Jemen, unter Verdacht, den Anschlag auf die USS Cole mit geplant zu haben. Er wird von zwei FBI-Agenten verhört, und als sie ihm die Namen der Flugzeugentführer nennen, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Diese Gruppe hatte er betreut, er kannte sie allesamt persönlich. Abu Jandal war so schockiert von der Tat, dass er den FBI-Agenten sein ganzes Wissen preisgab, und somit den Treueschwur – den bay’at – den er Osama Bin Laden geleistet hatte, missachtet. Heute lebt er als Taxifahrer in Sana’a, geplagt von Gewissensbissen, denn sein Freund Salim Hamdan – der ehemalige Fahrer Bin Ladens – saß jahrelang in Guantánamo aufgrund der Informationen, die Abu Jandal dem FBI zuspielte. Der neuen Generation der Al-Quaeda ist er zu weich; sie nennen ihn einen Verräter, sähen ihn am liebsten tot. Der alten Generation hat er abgeschworen, doch der Sache an sich bleibt er treu.

Laura Poitras‘ Film forciert keine Schuldzuweisungen. Er verurteilt weder das stellenweise als wirr dargestellte Justizsystem des US-Militärs, noch die fragwürdigen Aussagen Abu Jandals. Hier werden Menschen und Meinungen gezeigt, ohne dass durch Montage oder Kommentare von Seiten des Produktionsteams tatsächliche Meinungsmache betrieben wird. Das Urteil obliegt letzten Endes dem Zuschauer. Der Stoff ist schwer zu verdauen: Man muss feststellen, dass Abu Jandal sich zwar gegen Terrorakte ausspricht, bei denen Zivilisten sterben, doch sieht wenige Augenblicke später, dass er sich für den Jihad ausspricht und nach wie vor die westliche Welt, insbesondere die Vereinigten Staaten, als Feinde betrachtet. Gleich zu Beginn der Dokumentation betrachtet Abu Jandal mit seinem Sohn ein Foto von demselben, als er zwei Monate alt war. Er liegt auf einer Decke, umrandet von einer AK-47 und zwei Handgranaten. Sein Sohn deklariert, später einmal Jihadist werden zu wollen, doch beim frühmordenglichen Gebet schläft er fast ein.

„The Oath“ ist ein Film über Loyalität, Schuld, Verrat, und der Frage nach Reue. Judith Butler postuliert in ihrem Buch „Frames of War: When is Life Grievable?”, dass eine Disparität zwischen den verschiedenen Auffassungen von „Leben“ besteht, die eine bestimmte Gruppierung für ‚betrauernswert‘ erklärt, während sie eine andere als ohnehin schon todgeweiht und somit entbehrlich betrachtet. Dieser Teufelskreis lasse sich nur durchbrechen, indem das Leben aller Parteien gleichwertig aufgefasst würde. Laura Poitras hätte hierzu mit ihrer Doku einen ersten Schritt getan.

The Oath
(USA 2010)
Regie: Laura Poitras; Musik: Osvaldo Golijov; Kamera: Laura Poitras, Kirsten Johnson; Schnitt: Jonathan Oppenheim
Länge: 95 Minuten

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