Zu groß für die Leinwand

Eine Geschichte des Kinos, die zugleich eine allgemeine über das „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm) sein will, zehn Jahre Bearbeitungszeit, über vier Stunden Laufzeit, die wiederum Hunderte von Filmstunden komprimieren, und der Name Jean-Luc Godard – die bloßen Fakten des Filmessays Histoire(s) du cinéma sind beachtlich und wecken naturgemäß hohe Erwartungen. Godard antwortet mit einer, wohlwollend formuliert, „sinnlichen und intellektuellen Herausforderung“ (Pressetext), welche die Grenzen des Kinos gleich in mehrfacher Hinsicht ausreizt.

Godards Projekt ist im Rahmen einer Kollaboration des Berliner arsenal-Kinos (Freunde der Deutschen Kinemathek e.V.) und dem Filmbüro der französischen Botschaft das erste Mal und für nur kurze Zeit (16.12.-23.12.05) im deutschen Kino zu sehen. Lediglich als Rauminstallation auf einer „documenta“ war es schon einmal in Deutschland zu bestaunen, eine vielsagende Randnotiz. Denn die Histoire(s) sind kein filmhistoriographisches Werk, das chronologisch die Entwicklung des Kinos darstellt. Der Ansatz ist vielmehr ein rein künstlerischer: Hauptsächlich mithilfe von Filmzitaten und wohl sämtlichen Registern der Montage untermalt Godard die postmoderne These, dass das von Geschichte bestimmte Kino wiederum selbst Geschichte hervorbringe – als Erinnerung, als Formen und Bilder, in denen wir an historische Ereignisse denken. Mit einem solchen Anspruch ist natürlich keine „große Erzählung“ zu Zelluloid zu bringen und so beschäftigt sich Godard ausschließlich fragmentarisch mit Geschichte und Kino – Auschwitz ist als Bruchstelle ebenso dabei wie die Nouvelle Vague als Aufbruch oder die fatale beauté als klassischer Topos des Kinos. Acht solcher Fragmente bilden den Korpus der Histoire(s), hinzu kommt eine 80-minütige Zusammenfassung, die durch die neue Montage indes als Kommentar fungiert.

Die Darreichungsform der Godardschen Filmgeschichte ist keine leichte Kost. Zwischen unzähligen Schlüsselszenen aus amerikanischem und europäischem Kino, modernen Gemälden (Picasso, Goya, Manet) und einem klassischen Kanon von E- und U-Musik stellt Godard in hastigen Schnitten, Ein- und Ausblenden, beschleunigten und verlangsamten Szenen, Kommentaren und den bekannten Schrifteinblendungen allerlei Bezüge her. Noch während der Zuschauer all dies zu dechiffrieren versucht, prasseln schon die nächsten Gedanken Godards auf ihn ein. Eine hilfreiche Eingrenzung erfährt das reichhaltige Material nicht, im Gegenteil: Von der ursprünglichen, nicht gerade bescheidenen Frage nach der Geschichte des Films irrt Godard immer wieder ab, kommt zwischenzeitlich bis zu Gott und der Komplexität des inneren Universums. Das Kino ist eben mehr als Technik, mehr als Kunst, rechtfertigt er, es ist ein Mysterium. Damit wohl aber auch ein gedanklicher Overkill, der leicht in gepflegte Langeweile übergehen kann. Den Meister kümmert’s nicht. Zigarre schmauchend veranstaltet er etwas Schautippen, sitzt zuletzt nur noch mit Augenschirm und entblößter Brust vor der Schreibmaschine – ein kurioser Kommentar zur Auteur-Theorie?

Histoire(s) du cinéma ist der ehrgeizige und tiefgründige Versuch einer filmischen Filmgeschichte, kein Filmessay, sondern ein vielschichtiges Filmgedicht. Godard fordert seinen Zuschauern dabei ein hohes Maß an Wissen und Geduld ab, vielleicht zu viel, um die überkomplexen Histoire(s) du cinema sehenswert zu nennen. Untersuchenswert, ja untersuchensnotwendig, sind sie aber zweifellos. Ob jedoch selbst dies im Kinosaal geschehen kann und soll, das darf bezweifelt werden.

Histoire(s) du cinéma
Frankreich 1989-1998
Regie: Jean-Luc Godard

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