Vom Stummfilm zum Tonfilm

Wie kommt es, dass bereits Anfang des 20. Jahrhunderts der Tonfilm technisch möglich war und dennoch wieder verschwand, bevor er in wenig veränderter Technologie erst am Ende der zwanziger Jahre wieder erfunden wurde und dann seinen unaufhaltsamen Siegeszug begann?

Entlang dieser Frage führt Corinna Müller ihre Geschichte des frühen Tonfilms aus, mit der es ihr gelingt, den vorhandenen Filmgeschichten eine neue Sicht hinzu zu fügen. Sie ist gekoppelt an die in der Filmtheorie der Dreißigerjahre dann oft diskutierte Frage, ob der Tonfilm gegenüber dem Stummfilm wirklich ein „Fortschritt“ sei. Die Antwort fiel aus heutiger Sicht erstaunlich distanziert aus. Corinna Müller zitiert für das „Pro“ u. a. Eisenstein, der allerdings vehement für die Trennung der einzelnen Elemente Bild, Musik, Text plädierte – eine deutliche künstlerische Parallele zu Brechts an der Oper demonstrierter Theorie des epischen Theaters -, das „Contra“ repräsentiert u. a. Arnheim. Tonfilm sei Rückfall ins Theater und, noch schlimmer, in den Abbildrealismus der Kunst.

Kenner der frühen „Film-als-Kunst“-Diskussionen verwundert diese Distanz nicht, wurde doch namentlich in der deutschen Öffentlichkeit der Film gegenüber dem Trivialitäts- und Kitschvorwurf mit dem Argument verteidigt, dass er an die Stelle des theatralischen Textes den Fortlauf der Bilder in einem eben stummen Drama setze. Seine größte Vollendung erfahre er im mimischen und gestischen Ausdruck der Akteure, sichtbar gemacht durch die nur dem Film möglichen Nahaufnahmen und weiteren Techniken der Bildkomposition. Mit diesen Argumenten war per se eine Entscheidung für die Definition des Films als fiktionales Drama mit hohem und eigenem ästhetischen Anspruch gefallen. Genau an diesem – einseitigen – Anspruch, so zeigt Corinna Müller, wird der Tonfilm von den zeitgenössischen Kunstrichtern gemessen, während seine Möglichkeit zwei Jahrzehnte früher eher einer ungesteuerten kulturpolitischen Entwicklung zum Opfer fiel. Das „Tonbild“ verschwand zum selben Zeitpunkt, als der „mittellange“ Spielfilm als Vorläufer des Abend füllenden Melodramas Mode wurde.

Corinna Müller versteht es, zwischen beiden Phänomenen einen plausiblen Zusammenhang herzustellen. Er knüpft sich vornehmlich an die kulturell erfolgreiche Entwicklung des Films als Fiction Film mit der Besonderheit, eine Sphäre des „Als ob“, des Traums, der Gegenwirklichkeit zu schaffen. In dieser Erwartung treffen sich in seltener und vorläufiger Koinzidenz Massengeschmack und Filmtheoretiker, die nach dem definitiven Ende der Stummfilmära dann allerdings wieder divergieren. Der Tonfilm hätte sich nicht durchgesetzt, wenn er der Masse nicht verkaufbar gewesen wäre, und damit waren die erwähnten Realismus-und Platitüde-Einwände der Theoretiker wirkungslos.

Corinna Müller spannt in ihrer dickleibigen Studie einen Bogen über drei Jahrzehnte Filmentwicklung, die sie gemäß der Ausgangsfrage explizit nicht als lineare filmtechnische Entwicklung verstehen kann. Stattdessen verfolgt sie die Aspekte Technik, Ästhetik und Kultur des Fiktionalen in ihrer – mitunter ungleichzeitigen – Verschränkung. Nach der sehr differenzierten Darlegung der verschiedenen akustischen Techniken, die bereits den Stummfilm begleiteten, analysiert sie beispielhafte Tonfilme vom Ende der zwanziger Jahre und beschließt die Reihe folgerichtig mit einer verblüffend langen Reihe von Technik und insbesondere Akustik-Thematisierungen in Spielfilmen, die von zeitgenössischen Kritikern wie Filmhistorikern eher dem „leichten“ Genre zugeordnet wurden. Dieser ohnehin diskussionswürdigen Kategorie stellt Corinna Müller die selten wahrgenommene Selbstbezüglichkeit des Tonfilms zur Seite, die nach ihrer Auffassung auch den Realismus-Vorwurf aufgreift. Insbesondere die Musik und das Lied im Film gäben ihm zurück, was er durch den wirklichkeitsnahen Dialog vielleicht eingebüßt habe: die Aura des Künstlichen und des Scheins. Dass der Tonfilm genau diesen Charakter perfektionieren konnte, zeigt im Übrigen seine auf dieses Ziel gerichtete Entwicklung im Deutschland der Dreißigerjahre.

Corinna Müller
Vom Stummfilm zum Tonfilm
418 Seiten, 43 Abb. (broschiert)
54,00 Euro

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Dr. Sigrid Lange

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