Melancholiker des Films

Murnau-Freunde werden von diesem Band begeistert sein und gleichwohl melancholisch werden, zeigt doch diese Dokumentation der vom Filmmuseum Berlin und der Deutschen Kinemathek veranstalteten Murnau-Ausstellung, was alles von diesem Meister des deutschen Stummfilms normalerweise verborgen bleibt. Von Murnaus 21 Filmen gelten nur 12 als erhalten, und auch die sind bis auf wenige Ausnahmen der breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt. Heute mag Murnau seine Popularität hauptsächlich Nosferatu schulden, jenem Vampir-Klassiker aus dem Jahre 1921, dem dank einer anhaltenden Vampir-Manie des cineastischen Publikums bleibendes Interesse gilt. In Retrospektiven wird dann ab und an Der letzte Mann (1924) vorgeführt als frühes Glanzstück der entfesselten Kamera (die Karl Freund bediente) wie der psychologischen Schauspielkunst von Emil Jannings, der Faust-Film (1926) lässt sich dem literarischen Bildungskanon zuordnen, und Murnaus letzter Film Tabu (1931) hat vielleicht eine gewisse Bekanntheit als später Stumm- und früher Exotikfilm, der noch dazu auf mystische Weise mit dem Unfalltod seines Schöpfers zu tun zu haben scheint.



Der hier nun zusammen gestellte Band versammelt historische Dokumente und die kenntnisreiche Bewunderung Murnaus von vielen, die Rang und Namen haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen von Lotte Eisner und Béla Balázs über Herbert Ihering und Kurt Pinthus bis zu Joseph Roth, die auch die verschollenen (man beschwört mögliche künftige Funde mit dem Zusatz: „bislang verschollenen“) Filme mit beeindruckenden Bildbeigaben illustrieren. Sie werden ergänzt durch Stimmen aus der heutigen Filmprominenz, die je individuell erklären, wie Murnau Filmgeschichte geschrieben und geprägt hat – sei es Hanns Zischler, der an Schloss Vogelöd (1921) zeigt, den (der Handlung) „vorlaufenden Raum“ schafft, sei es Tom Tykwer, der an Sunrise (1926/27) lernt, dass Film Traum ist, sei es Dominik Graf, für den Murnau den Thriller, den Horrorfilm und das Melodram in Deutschland zu einer Zeit begründete, als sie noch nicht missbrauchbar waren, oder Wim Wenders, der glaubhaft versichert, dass Murnau seiner Zeit filmisch um „Lichtjahre voraus“ war mit einer Kunst, die dem freien Bilderzählen leider noch die Fesseln alter narrativer Soapstrukturen anlegen zu müssen glaubte. Allerdings – es ist die Bilderzählung, deren Tradition Murnau legte, und in dieser Erkenntnis kommt kaum einer der Beiträger, ausgesprochen oder nicht, an Lotte Eisners Dämonischer Leinwand vorbei, wo sie nicht zuletzt dank Murnau den expressionistischen deutschen Film aus dem Geiste der romantischen Malerei erklärte.

Den vielfältigen erhellenden Hommages für Murnau, die heutige Künstlern abgegeben haben, sind ein längerer filmwissenschaftlicher Essay von Thomas Koebner und zwei ausführliche Lebensbilder Murnaus von Daniela Sannwald und Janet Bergstrom voran gestellt. Während letztere im Detail Murnaus Lebens- und Schaffensweg in seiner Einheit nachvollziehen und nacherlebbar machen, zieht Koebner eine Bilanz der Murnau-Forschung. Er verfährt systematisch, nach für Murnau charakteristischen ästhetischen und thematischen Gesichtspunkten wie „Assymetrie“, „Blicke“. Stilleben“, „Melodram“, „Schrecken“, „Schwarze Schatten“, „Bewegung“, „Täuschung“ usw. und entfaltet so ein Panorama der Murnauschen Filmkunst, das für Wissenschaftler wie cineastische „Laien“ gleichermaßen lesenswert ist.

Helmut Prinzler (Hg.)
Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films
Berlin: Bertz & Fischer 2003
304 Seiten (gebunden)
25,00 Euro

Dr. Sigrid Lange

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