Blickverschiebungen: Kulturindustrie revisited

In der gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten „Dialektik der Aufklärung“ (1947) prägte der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno das vielzitierte Schlagwort ‚Kulturindustrie‘. Adornos These – und der Begriff der Kulturindustrie fasst diese pointiert zusammen – ist es, dass in unserer Gesellschaft auch die Kultur gänzlich von der kapitalistischen Warenlogik kontaminiert ist: Kulturerzeugnisse sind für den Markt bestimmte und allein nach Marktregeln konzipierte Produkte wie Seife oder Schokoriegel. Die gesellschaftliche Diagnose, die er mit seiner Kulturkritik verbindet, ist äußerst pessimistisch: In der Gestalt der Kulturindustrie wird Kultur, die eigentlich der Aufklärung dienen soll, zum „Massenbetrug“, zu einer perfiden Form von ‚Opium fürs Volk‘, die den Einzelnen darüber hinwegtrösten und -täuschen soll, daß er nur Rädchen im Getriebe der „verwalteten Welt“ ist.


Lässt man den Blick über die tumben Massen schweifen, die die Zuschauerränge zeitgenössischer Castingsshows bevölkern, wird man der Adornoschen Analyse eine gewisse Plausibilität nicht absprechen wollen. Gleichwohl: Die These vom gesamtgesellschaftlichen „Verblendungszusammenhang“, der von der Kulturindustrie erzeugt und zusammengehalten wird, ist in ihrer Universalisierung allzu fatalistisch. Adorno bedenkt die Kultur womöglich zu sehr von der Produzentenseite her; der einzelne Kulturteilnehmer, der ‚Konsument‘ der kulturindustriellen Produkte, wird als passiver Empfänger gedacht. Er ist Rezeptor und nicht Rezipient. Eine Theorie des (aktiven) Rezipienten, des mündigen Kulturteilnehmers, findet man bei Adorno nicht – jedenfalls nicht an der Oberfläche.

In der jüngeren kulturwissenschaftlichen Diskussion wird dieses Defizit der Adorno’schen Kulturkritik aufgegriffen (ohne dass dabei immer explizit der Name Adornos fällt). Paradigmatisch zeigt sich dies im Forschungsfeld der sogenannten „Visuellen Kultur“, das in einem von Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer herausgegebenen Sammelband umrissen wird. Visuelle Kultur – das meint, wie die Herausgeber im Vorwort schreiben, eine Betrachtungsweise der „Vielfalt an Formen und Praktiken, in denen Kultur erzählt, geschrieben und produziert wird“, die sich dadurch auszeichnet, dass stets „die Frage nach anderen, unbekannten und unbenannten Blickwinkeln“ gestellt wird – und zwar „jenseits herkömmlicher Kanäle und Wissenskörper und außerhalb eingelernter Diskurse und etablierter akademischer Disziplinen“. Als „postdisziplinäre Taktik“ (Nicholas Mirzoeff) habe sie die Aufgabe, „die Effekte des kulturellen Alltags nicht aus der Warte der Produzenten zu formulieren, sondern über die Perspektive von Konsumenten zu einer eigenständigen Neudefinition und Neugestaltung kultureller Realitäten zu gelangen.“

Damit gehen die Vertreter dieser im Wortsinne ‚undisziplinierten‘ Kulturwissenschaft über Adorno hinaus, ohne sein kritisches Anliegen zu vergessen. Dem kulturellen Geschehen und seinen Artefakten stehen sie nicht einfach affirmativ gegenüber, sondern plädieren für eine „Mikro-Piraterie“, das heißt eine Form der Kulturaneignung, die nicht bloß passiv, sondern aktiv gestaltend ist: „Diese veränderte Haltung gegenüber kulturellen Gütern und Prozessen führt uns von einem Pessimismus der Auslieferung gegenüber aufgetragenen Identitätsentwürfen zu Modellen des Unframings und Undoings […]. Von der Rolle des Markierten zum Spiel mit Markierungen, von auferlegten Bildwelten zur Collage als selbstbestimmten Verhandlungsort.“ (In diesem spielerisch-subversiven Umgang mit Kultur und Konsumgütern unterscheidet sich dieser Ansatz auch deutlich vom unsäglichen Konsumismus eines Norbert Bolz, der blind das Bestehende affirmiert und dem der Konsum als heilsames Sedativ für eine allzu aggressive Menschheit gilt.)

In elf Aufsätzen, die jeweils den Rubriken ‚Körper‘, ‚Räume‘ oder ‚Medien‘ zugewiesen sind, wird diese neue Betrachtungsweise erprobt und illustriert. Dabei gelingen den Autoren interessante Beobachtungen zu verschiedensten kulturellen Praktiken, etwa dem sog. ‚Cruising‘, der Suche nach sexuellen Abenteuern an öffentlichen Plätzen, oder dem Skateboarding, die als subversive Strategien gelesen werden. Gleich vier Aufsätze sind dem Cyberspace gewidmet; befragt wird er – mal hoffnungsfroh, mal eher kritisch – auf sein utopisches Potential und seine ‚Realität‘. Andere Texte sind zum Beispiel Fragen der Stadtplanung gewidmet.

In Anna Schobers den Band beschließenden Aufsatz, „Close-Ups in der Kinostadt“, wird die im Vorwort skizzierte Programmatik wohl am Eindrücklichsten umgesetzt. Dies liegt daran, dass sie da ansetzt, wo auch Adorno in seiner Analyse der Kulturindustrie ansetzt: beim Kino und bei der Reklame, zwei Domänen, die eng miteinander verflochten sind. Bei diesem direkten Vergleich ist der Unterschied zwischen moderner und i. w. S. postmoderner Kulturanalyse augenfällig – nicht in der Diagnose, aber im Umgang mit ihr. Die Diagnose ist sowohl bei Adorno wie bei Schober: Kino und Realität durchdringen einander – Schober fasst dies begrifflich als „Kinogeher-Phänomen der Bezeugung“ –, so dass man als Konsument und Kulturteilnehmer in seiner Wahrnehmung zusehends gesteuert wird, einem „Wahrnehmungs-Regime“ unterliegt. Adorno sieht in dieser Kontrolle der Wahrnehmung eine Manipulation und Zurichtung der Subjekte, der man mehr oder minder schutzlos ausgeliefert ist und gegen die man, wie er an einer Stelle sagt, regelrecht „geimpft“ werden müsse. Schober hebt dagegen – in der Tendenz Foucault folgend – hervor, dass das „Wahrnehmungs-Regime“ nicht von einer gesellschaftlichen Gruppe – etwa der Filmindustrie – allein kontrolliert, sondern vielmehr in einem „Zueinander- und Gegeneinanderspiel von unterschiedlichen Kräften, Wahrnehmungen, Repräsentationen und Lebensweisen“ hergestellt werde. Das ermöglicht dann auch unerwartete ‚Ereignisse‘ – etwa durch künstlerische Intervention. Dies illustriert Schober an Objekten der Künstler Navin Rawanchaikul und Rirkrit Tiravanija, die Plakatwände – Inbegriff kulturindustrieller Wahrnehmungssteuerung – als Kunstwerke gestalten und sie so als „trojanische Pferde“ im öffentlichen Raum plazieren, wo sie Blickverschiebungen möglich machen können.

Blickverschiebungen – das ist, bei aller Diversifizierung, das Generalthema, das die Aufsätze dieses überaus anregenden Sammelbandes verknüpft und wohl auch vor allem ihren Verdienst ausmacht: Sie dokumentieren Blickverschiebungen (oder setzen sie selbst ins Werk) und geben so den Diskursteilnehmern Bausteine an die Hand, die einen kreativen Umgang mit kulturellen Artefakten und Praktiken erlauben.

Peter Mörtenböck/Helge Mooshammer (Hrsg.)
Visuelle Kultur: Körper – Räume – Medien
Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2003
279 Seiten (broschiert)
39,00 Euro

Patrick Baum

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