Unzeitgemäße Publikumsbeschimpfung

Irgendwann um das Jahr 2000 hatte der deutsche Film das Nationale für sich entdeckt. Fing es mit „Sonnenallee“ (1999) an? Jedenfalls kam die Welle der Histotainment-Schmonzetten, Doku-Fictions und Nationalepen dann so richtig ins Rollen: „Der Tunnel“ (2001), „Vera Brühne“ (2001), „Zwei Tage Hoffnung“ (2003), „Der Aufstand“ (2003), „Rosenstrasse“ (2003), „Das Wunder von Bern“ (2003), „Good Bye Lenin!“ (2003), „Das Wunder von Lengede“ (2003), „Der Untergang“ (2004), „Stauffenberg“ (2004), „Die Nacht der großen Flut“ (2005), „Die Luftbrücke – Nur der Himmel war frei“ (2005), „Dresden“ (2006), „Die Mauer – Berlin ’61“ (2006), „Nicht alle waren Mörder“ (2006), „Die Sturmflut“ (2006), „Die Flucht“ (2007) und „Contergan“ (2007). „Das Leben der anderen“ (2006) und die deutsch-österreichische Produktion „Die Fälscher“ (2007) konnten sogar den Auslandsoscar abräumen. Und auch im Filmjahr 2008 blieb das Interesse für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ungebrochen: „Der rote Baron“, „Die Gustloff“, „Der Baader Meinhof Komplex“, „Anonyma – Eine Frau in Berlin“, „Die Buddenbrooks“, „Die Entdeckung der Currywurst“, „Mogadischu“, „Nordwand“, „Novemberkind“, „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“, „Das Wunder von Berlin“, usw.

Vielleicht markiert das Millennium auch einen Paradigmenwechsel: Gerade wenn es um die Jahre zwischen 1933 und 1945 geht, hat sich die Perspektive vom Täter zum Opfer verschoben. Die Leinwände (und Fernsehbildschirme) waren voll von vertriebenen, vergewaltigten, ausgebombten, ausgeraubten, verfolgten, betrogenen, bespitzelten ehrenwerten Deutschen, während die Täterprofile meist eindimensional blieben: bloße Gegenbilder zu einem integren Selbstbild, das dieses Kino (einschließlich der Fernsehfilme, und aller „Amphibienfilme“ dazwischen) als Beitrag zu einer (Re-?)Kultivierung des Nationalen (ob gewollt oder ungewollt) leistet. Dieses Kino war Teil eines gesellschaftlichen Umbruchs, der sich in der Patriotismusdebatte zur WM 2006 ebenso zeigte wie in der unsäglichen Social Marketing-Kampagne „Du bist Deutschland“ oder der endlosen Leitkultur-Debatte. Wenn sich aus dem Ausland Schützenhilfe zur Rehabilitierung des Nationalstolzes anbot, wurde dies auch gleich freudig vom konservativen Feuilleton bejubelt. So diskutierte man eifrig, ob der Scientologe Tom Cruise der richtige Hauptdarsteller für „Valkyrie“ (2008) sei, eine Hollywood-Produktion über Stauffenberg , dessen „sagenhaften Heldenmut, seine große Gewissensstärke und seinen Vorbildcharakter“ Florian Henckel von Donnersmarck ausführlich in der FAZ heraushob.

Irgendwann um das Jahr 2000 wurde also wieder das Fähnchenschwenken populär – wahrscheinlich als Reflex auf die sich unerbittlich anbahnende Globalisierung, die einen wieder enger zusammenrücken lässt – ein Phänomen der sogenannten „Glokalisierung“. Dabei wurde das neue Jahrtausend doch so wunderbar mit Romuald Karmakars „Manila“ eingeläutet, einem Film der auf gänzlich andere Weise zur Konstruktion deutscher Identität beiträgt.

Der gebürtige Wiesbadener Romuald Karmakar (*1965), Sohn einer französischstämmigen Mutter und eines iranischen Vaters, beschäftigt sich in seinen meist dem Dokumentarischen verhafteten Filmen vornehmlich mit den Schattenseiten deutscher Geschichte. Mit „Der Totmacher“ (1995) erlangte Karmakar breitere Aufmerksamkeit – doch ansonsten scheint seine schonungslose Art des Kinos nicht so recht den eitlen Bedürfnissen der neuen Berliner Republik gerecht zu werden. Einzig seine „Hamburger Lektionen“ (2007), wie schon „Das Himmler-Projekt“ (2000) eine minimalistische Inszenierung mit Manfred Zapatka, wurde wohl aufgrund seiner Behandlung einer radikalislamistischen „Haßpredigt“ von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Dieses Thema ist schließlich bequemer, denn hier geht es darum, eine fremde Bedrohung zu sezieren – und weniger um das Vordringen in die Tiefen des eigenen (kollektiven) Bösen.

In Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Bodo Kirchhoff schuf Karmakar das Drehbuch zu „Manila“, einer fulminanten Publikumsbeschimpfung wider die Deutschtümelei, die im Sommer 2000 Premiere feierte, und endlich seit Juli 2008 auf DVD zu haben ist. Nach all dem eitlen Nationalkino der letzten Jahre ist dieses Release ein echter Befreiungsschlag.

Der Dreh des Films ist schnell zusammengefasst: In einer Ausnahmesituation – man sitzt auf dem Flughafen in Manila fest – offenbart ein Haufen deutscher Urlauber ihre hässlichen Seiten: todessehnsüchtige Erotik, nationalen Chauvinismus, Sexismus, die unverarbeitete Vergangenheit, larmoyante Ichbezogenheit, unterdrückten Sadomasochismus und falsche Harmoniesucht, eben die ganze deutsche Psychopathologie.

Erzählt werden in miteinander verschlungenen Episoden die Ereignisse im Flughafen, wenn sich die Reisenden einander näher kommen, sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählen oder einfach nur mit ihren Sexabenteuer vor den anderen prahlen. Die theatralische Form von „Manila“ bündelt die losen Handlungsfäden in der dramatischen Einheit von Raum und Zeit, quasi in Echtzeit verfolgen wir das Ensemblespiel in naturalistischer Kulisse, in der verranzten, schummrigen Wartehalle, in der man den Geruch übervoller Aschenbecher, Schweiß und Klostein buchstäblich als Zuschauer zu riechen meint. Mit sichtlich großer Spielfreude tobt sich die erlesene Darstellerriege aus und transportiert die bösartige Botschaft, die in der Werbezeile des Verleihs prägnant zusammengefasst lautet: „Soweit sie auch reisen, sie bleiben immer ein Schwein.“

Das ganze ist wunderbar schmierig und schmutzig gelungen – und wenn am Ende dieser fern der Heimat gestrandete „Gefangenenchor von Manila“ unentwegt repetierend im Einigkeitstaumel die Zeile „Polizeistunde kennen wir nicht“ grölt, dann ist man von soviel unverfrorener Thomas-Bernhard’esker Polemik und „unzeitgemäßem“ Anti-Social Marketing überwältigt. Für einen solchen Film wird sich wohl in nächster Zeit kein Sendeplatz bei ARD und ZDF finden lassen.

Manila
(Deutschland 1999)
Regie: Romuald Karmakar, Drehbuch: Bodo Kirchhoff, Romuald Karmakar, Kamera: Fred Schuler, Ton: Martin Müller, Schnitt: Peter Przygodda
Darsteller: Margit Carstensen, Michael Degen, Herbert Feuerstein, Elizabeth McGovern, Sky Du Mont, Peter Rühring, Martin Semmelrogge, Jürgen Vogel, Manfred Zapatka, Ana Capri, Chin-Chin Gutierrez, Nina Heimlich, Ces Quesada, Joachen Nickel, Eddie Arent
Länge: ca. 110 Minuten
Verleih: Senator / universumfilm

Zur DVD von Senator / Universumfilm

Bild und Ton des Hauptfilms sind nicht zu beanstanden. Die Extras beschränken sich auf kurze Interviewschnipsel, in denen Karmakar, Kirchhoff und einige der Darsteller auf wenig interessante Fragen antworten. Auf englische Untertitel hat man bedauerlicherweise verzichtet, so dass der Film vorerst für ausländische Rezeption verloren ist.

Bildformat: 16:9 (1,85:1)
Tonformat: Dolby Digital 2.0
Sprache: Deutsch
FSK: Freigegeben ab 16 Jahren
Extras: Original Kinotrailer, Interviews, Filmtipps

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