Simulation und Verführung

Das Werk des französischen Theoretikers Jean Baudrillard, des „Feuilleton-Gespenstes“ der europäischen Gazetten, ist so populär, wie unverstanden. Dies klingt zunächst paradox, doch erklärt sich vor allem daraus, dass Baudrillard sich mit seinen Theorien zwischen alle Stühle setzt: Für die geisteswissenschaftliche Fachwelt sind sie nicht „wissenschaftlich“ genug und für den Nicht-Akademiker oft zu komplex und anspielungsreich und für Naturwissenschaftler oft einfach „eleganter Unsinn“. Und dennoch findet Baudrillard Beachtung. Denn seine Thesen zur Kultur scheinen zwar oberflächlich wissenschaftlicher Begründung zu entbehren, haben jedoch eine eigenartige Richtigkeit, ja sogar Relevanz. Ausgehend von der politischen Ökonomie und der Simulationstheorie in den 70er Jahren, über die Theorie der Verführung in den 80er Jahren zur Transparenz des Bösen in den 90er Jahren hat er immer wieder zentrale Momente der zeitgenössischen Kultur aufgegriffen und erklärt.

Zu den wenigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Baudrillard (und den noch geringeren deutschsprachigen) zählt der 1994 im Fink-Verlag erschienene Band „Baudrillard – Simulation und Verführung“. Er versammelt elf Aufsätze, einen Essay und ein Interview rund um den zentralen Themenkomplex der „Simualtionstheorie“. Daneben unterliegt dem Band noch die „hidden agenda“, eine Aufbereitung des Baudrillard’schen Oevres für die deutschsprachige Fachwelt überhaupt zu sein. Denn fast jedem der Aufsätze geht entweder zentral, wie im Vorwort der Herausgeber und den meta-theoretischen Untersuchungen Daniel Fuders oder peripher eine „how to read Baudrillard“-Anleitung voraus. Hier werden sein von ihm selbst des Öfteren als „prosaisch“ bezeichneter Stil verhandelt, seine Terminologie, welche Versatzstücke aus Biologie, (neuer) Physik, Kybernetik und Medientechnik enthält, erklärt und seine opaken Argumentationsstrukturen entwirrt. Hinter all dem steht das Projekt, ihn für die Wissenschaft „lesbar“ zu machen.

Inhaltlich setzt sich der Band mit dem wohl wichtigsten und folgenreichsten Theorem der „Simulation“ auseinander. Diese von Baudrillard vor allem in den Werken „Der Symbolische Tausch und der Tod“ und „Die Agonie des Realen“ postulierte Theorie, die gleichsam ein politisch-ökonomisches (Symbolischer Tausch) und ein medientheoretisches (Agonie des Realen) Fundament hat, ist ein Paradigma der Mediengesellschaft geworden. Die vielfältigen und gegenseitigen Einflüsse von Gesellschaft und Medien kulminieren nach Baudrillard in der Hyperrealität und der Simulationsgesellschaft, die das philosophische Wahrheitsprinzip vollständig ausgeschaltet zu haben scheint, in der die Modelle den realen Erscheinungen, die sie beschreiben, vorausgehen.

Ein knapper Überblick: Den technischen Bedingungen und Auswirkungen des Simulationsgedankens auf den Menschen widmet Wolfgang Pircher seine Überlegungen. Ausgehend von der Dominaz, die die Maschine im Alltag des Menschen gewonnen hat, wirft der Autor einen Blick auf Simulationsstrategien in der (Unfall-)Medizin. Jochen Hörisch untersucht die ökonomischen Implikationen dieser Theorie und führt sie mit Gedanken über die Substanzialität und Ideologie des Geldes eng. Norbert Bolz widmet seinen Essay der Hyperrealismus-Theorie anhand des Beispiels „Amerika“ und nutzt hierzu Baudrillards Reiseaufzeichnungen, die er in den „Cool Memories“ Mitte und Ende der 80er Jahre festgehalten hat. Vier der Autoren stellen die Theorien Baudrillards denen zeitgenössischer Medientheorietiker gegenüber: Stefan Bollmann vergleicht seine Texte mit denen Vilem Flussers, indem er das „Fiktionale“, welches beider Werke kennzeichnet, hervorhebt. Martina Dobbe untersucht die Transästhetik-Debatte bei Baudrillard und Jean-François Lyotard und geht dabei vor allem beider Verständnis der Kunst-Avantgarden und dem Problem des Erhabenen nach. Michael Wetzel vergleicht Baudrillard mit dem ihm wohl ähnlichsten zeitgenössischen Denker, seinem Landsmann Paul Virilio, in Hinsicht der Bedeutung der neuen Medien für den gesellschaftlichen „Wandel“ (der von beiden mehr als ein „soziales Einfrieren“ dargestellt wird). Und Ralf Bohn schließlich entwickelt eine Psychosentheorie zwischen Baudrillard und Lacan in Hinblick auf das paranoische der Simulationstheorie und der Fraktalisierung des Subjektes, wie sie Baudrillard als konstitutiv für die zeitgenössische Gesellschaft beschreibt.

Der in seinem Tenor einzig kritische Essay stammt von Klaus Kraemer. Dieser untersucht Baudrillards Zeichen-Theorie (die von einem Signifikanten ohne Referenz ausgeht) und stellt fest, dass Zeichen ohne Verweischarakter, wie sie Baudrillard postuliert, eine Unmöglichkeit darstellen. Er entwirft im Kontrast dazu aus soziologischer Perspektive eine Zeichenmodell, welches allein die tradierten Bezugssysteme negiert und spricht sich für eine neue, heterogene Interpretation vom Zeichen als funktionalem Gebrauchswert aus. Damit stünde der Signifikationsprozess in direkter Tradition zu Lyotards Forderung postmoderner Anerkennung von Heterogenität der Diskurse. Der Lyotard’schen Gedankenwelt ebenfalls nahe (wenn auch nicht mit derselben Konsequenz) steht der Essay von Dietmar Kemper über das Moderne-Verstänis Baudrillards, wie es an der Rimbaud-Forderung „Man muss absolut modern sein“ kontrastiert wird: Baudrillard gilt als Denker der Post-Histoire damit als äußerster Kritiker moderner Geschichtsauffassung.

Von der rein akademischen Beschäftigung mit den Theoriebausteinen Baudrillards weichen die letzten beiden Texte des Bandes ab. Rudolf Heinz versucht sich in einem wenig geglückten Essay, Stil und Effekt von Baudrillards „Cool Memories“ zu duplizieren, indem er ein fiktives (?) Tagebuch anlegt, dass Gedanken und Erinnerungen mit Zitaten aus dem eigenen oder Baudrillards Werk verknüpft. Den Abschluss des Bandes bildet ein Interview zwischen Tom Lamberty, Kurt Leimer, Frank Wulf und Baudrillard von 1993. Versucht wird hier eine Verknüpfung der Hauptthemen „Obszönität“, „Verführung“, „Das Böse“ und „Simulation“ unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entsprechungen in der sozialen Wirklichkeit. Dabei wird der Selbstsituierung des Baudrillard’schen Denkens in seiner Zeit und den Fragen zu seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler genauso Platz eingeräumt, wie dem zentralen Thema der Medien.

Der Vielseitigkeit des Sammelbandes ist es zu verdanken, dass die Baudrillard-Rezeption den ihr gebührenden breiten Anfang gefunden zu haben scheint. Hier muss vor allem der unterschiedlichen Perspektive der Autoren auf den Theorie-Komplex Rechnung getragen werden, denn sie entspricht der Vielseitigkeit des Denkers Baudrillard. Ein Werk, das sich, wie das Baudrillards, so sehr gegen vereinheitlichende Lektüre und eineindeutige Auslegung sperrt, ist nur mit einem solch heterogenen Ansatz beizukommen.

Ralf Bohn & Dieter Fuder (Hrsgg.)
Baudrillard – Simulation und Verführung
München: Wilhelm Fink Verlag, 1994
235 Seiten

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