Sein Bruder

Patrice Chéreau interessiert sich auch weiterhin für die Momente der gegenseitigen Auslieferung, den Rissen in der Wahrung der Form des Miteinanders, in denen – so hieß bekanntlich auch sein letzter Film und der gewann vor zwei Jahren den Goldenen Bären in Berlin – Intimität entsteht. Und er interessiert sich für die unmittelbaren Konsequenzen für die Beteiligten, für die Bedingungen unter denen solche Grenzerfahrungen stattfinden, wie sie stattfinden.

Bereits erwähnter Intimacy (UK 2001) verhandelte dieses Thema unter Menschen, die nicht das geringste vom anderen und dessen Leben wissen, aber dennoch im Turnus miteinander vögeln. Son Frère, der Titel weist bereits darauf hin, nähert sich dem Sujet nunmehr von einer anderen Warte aus: zwei Brüder sind das hier, Thomas (Bruno Todeschini) und Luc (Eric Caravaca), der erste leidet an einer Blutkrankheit, die ihm vermutlich das Leben kosten wird. Zwei Menschen also, die biographisch eng miteinander verknüpft sind, aber dennoch – man erfährt es beiläufig, anhand kleiner Wissenslücken in Nebensätzen, etwa wo denn in der Wohnung des Bruders die Toilette sei – voneinander durch zwischenmenschliche Verwürfnisse getrennt wurden. Thomas, eher Lebemann, attraktiv und souverän, Luc eher etwas nachdenklich, gutmütig, gebückt und, etwas verschämt, homosexuell. Thomas offenbart Luc seine Krankheit, bittet ihn um Hilfe, sieht nur in seiner Person – trotz jahrelanger Distanz – einen möglichen Wegbereiter. Weder die Eltern der beiden, noch Claire oder gar das medizinische Personal – Thomas wird kurz nach dieser Offenbarung einen erneuten Zusammenbruch erleiden, der ihn für Wochen ans Hospitalbett fesseln wird -, nein, Luc scheint ihm der einzige Mensch von Belang geblieben zu sein. Thomas liefert sich Luc, aber auch seiner Krankheit, aus, beginnt ein langes Siechtum, das die Kamera, oft schmerzlich im Detail, protokolliert.

Chéreau zeigt seine Protagonisten, allen voran natürlich Todeschini als Thomas, vor allem als Träger von Texturen, als Oberflächen, reduziert sie, analog zu Thomas’ Verfall, nicht selten auf die bloße Haut, auf bewusst verwundbar inszenierte Nacktheit. Oberflächen also, zwischen denen, durch Thomas’ Siechtum bedingt, Kontakt und Reibung, Initimität also, entsteht und das auf vielerlei Weise. Etwa wenn Thomas schmerzlich vom Krankenbett aus versucht, Claire davon zu überzeugen, dass trotz seines bedenklichen Zustandes noch immer Möglichkeiten zur gegenseitigen Zärtlichkeit bestehen, er dabei hilflos die Schulter lustmachend zu streicheln versucht und diese vom BH-Träger befreit. Nur wenig später wird Claire aus dieser Beziehung fliehen. Oder wenn Luc seinem weinenden Bruder, so liebevoll wie verzweifelt, durch die Haare fährt, dem Weinenden den Nacken massiert, tröstend seine Schulter umfasst – stets sind es, nicht im negativen Sinne gemeint, Oberflächen, die sich jenseits gesellschaftlicher Formwahrung, berühren, Intimitäten schaffen. Eine für den Zuschauer besonders intensive Ausformulierung dessen wird gezeigt, wenn die Krankenschwestern den Patienten am ganzen Körper rasieren, ihn dabei, beinahe schon mechanisch, hin und her wenden, das Geschlecht allein von einem Stück Zellstoff bedeckt, auf welches beim Rasieren der Oberschenkel arglos mit latexbehandschuhten Händen gefasst wird. Anonyme Distanz und vollkommene Intimität gleichermaßen in einem Akt vereint, unter Bedinungen des vollkommenen Ausgeliefertseins, der totalen Reduktion des Menschen auf seine körperliche Hülle, dessen Oberfläche gar bloß, von der Kamera minutiös festgehalten. Wie überhaupt auch der Zuschauer in diesen Prozessen nicht außen vor steht, sondern vielmehr ebenso nahe Zeuge von Thomas’ letztem Weg wird, immer wieder mit der Inszenierung seiner Nacktheit, seines sichtlich gezeichneten und ausgemergelten Körpers – Todeschini hat in 3 Monaten 30 Kilogramm abgenommen – konfrontiert und somit zur Positionierung gezwungen wird.

Für Luc wird der letzte Weg seines Bruders – geschildert werden Erlebnisse zu Beginn des betrachteten Jahres im Krankenhaus, sowie dazu, stellenweise parallel montiert, die im folgenden Hochsommer im Haus der Eltern an der Küste Frankreichs – zum existenziellen Erlebnis. Die neue Nähe zwischen den beiden – dazu gehört, wenn auch eher nur am Rande, auch die Thematisierung von Lucs Homosexualität – wird oft aufgebrochen, dann wieder neu definiert, sie entwickelt sich weiter, wird reflektiert, und das immer wieder aufs Neue bis hin zum Schluß. Es wäre banal festzustellen, dass Luc sich weiterentwickelt habe, denn zumindest der Behauptung nach, passiert genau dies selbst noch im trivialsten Genrefilm. Konsequenterweise wird uns Lucs weiteres Leben nicht gezeigt, es wurde eh schon alles gesagt. Beziehungsweise gezeigt.

Sein Bruder (Son Frère, Frankreich 2003)
Regie/Drehbuch: Patrice Chéreau (nach dem Roman von Philippe Besson); Kamera: Eric Gautier;
Schnitt: François Gédigier; Musik: Angelo Badalamenti;
Darsteller: Bruno Todeschini, Eric Caravaca, Nathale Boutefeu, Maurice Garrel, u.a.
Verleih: Concorde, 95 Minuten

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