Schweinesystem

Wie jeder richtige Krieg hat auch der Kalte Krieg zwischen 1945 und 1989 eine Vielzahl kultureller Auseinandersetzungen provoziert, die sich mal parteiisch, mal neutral und dann im wesentlichen pazifistisch gegeben haben. Doch gerade der unausgetragene und stetig schwelende Konflikt zwischen den ideologischen Grußsystemen des Westens und des Ostens hatte allein dadurch, dass er die Existenz der gesamten Menschheit gefährdete, häufig künstlerische Stellungnahmen provoziert, die punktuelle zeitgenössische Ängste aufgenommen und ideologiekritisch verarbeitet haben. George Orwell, der in seinem 1949 erschienenen Roman „1984“ vor dem stalinistischen Totalitarismus gewarnt hat und damit vor allem erwachsene Leser ansprach, hat sich bereits 1945 mit seiner Parabel „Animal Farm“ an eine jüngere Leserschaft gewandt. Auf der Basis der Geschichte um einen Bauernhof, auf dem die Tiere gegen ihren brutalen Bauern revoltieren, den Hof übernehmen und damit eine viel beachtete Revolution auslösen, zeichnete Orwell die politische Geschichte der Sowjetunion von ihren Anfängen bis in die damalige Gegenwart nach – und skizzierte darüber hinaus eine Prognose, wohin sich das Sowjetsystem unter Stalin zwangsläufig entwickeln würde.

animalfarm1Der 1954 von Joy Batchelor und John Halas auf Basis des Buchs erstellte Zeichentrickfilm hält sich eng an die Vorlage, nutzt jedoch die Möglichkeit mithilfe von „Überzeichnungen“ die politischen und charakterlichen Eigenschaften der Tiere noch stärker zu vereindeutigen. Die nimmersatten Schweine, die die Revolution anführen und sie dann bald verraten, die reißenden Hunde, die sich als brutale Schergen der Schweine verdingen, die Hühner, die alles Gehörte fraglos nachgackern, der fleißige Ackergaul usw. Die einzige Figur, die gegen ihr landläufiges Klischee gezeichnet ist, ist der Esel, der zusammen mit dem Pferd zu geschehendem Unrecht zwar schweigt, jedoch in aller Heimlichkeit kritisch ist und sich als der intellektuelle Widerständler in der Gruppe der Tiere erweist. Damit die Charakterisierungen der Tiere noch einmal in ihrer intendierten Form unterstrichen werden, ist der kürzlich bei Winklerfilm erschienenen DVD im Beiprogramm noch eine Auflistung beigefügt, welche historische Figur mit welchem Tier „gemeint“ ist. Darin ist der Anführer der Schweine natürlich Stalin, ein ermordetes und danach des Verrats bezichtigtes Schwein Trotzki und der Esel – seltsamerweise – eine Figur, die für den Autor des Stoffes, George Orwell, stehen soll.

Man mag sich über den Wert derartig intentionalistischer Zuschreibungen streiten – für den Schulunterricht, für den die DVD hauptsächlich zusammengestellt wurde, hat diese Kodierung ihren Wert. Denn auf diese Weise kann einerseits das Wesen der politischen Parabel anschaulich gemacht werden, andererseits führt sie in eine strukturale Analyse von Fiktion ein, die sich nicht mehr bloß an den Plot heftet sondern die Homologie als Interpretationsmethode vorschlägt. Doch da zeigt sich  bereits das erste Problem dieser Herangehensweise, denn der politische Hintergrund des Systemkonfliktes und des Kalten Krieges kann so allenfalls synchron erschlossen werden. Das Verstehen von „Animal Farm“ als eine Parabel über die Geschichte der Sowjetunion macht das vorherige Kennen dieser Geschichte zwingend erforderlich, damit die Zusammenhänge verstanden werden können.

animalfarm2Der Film selbst wird durch solch eine Lektüre zudem von einem prinzipiell vieldeutigen ästhetischen Konstrukt zu einer „eindeutigen Diskursinszenierung“ reduziert. An „Animal Farm“ ließe sich auf diese Weise also zwar vielleicht vieles über die Geschichte, aber nur wenig über den Film als (Be-)Deutungssystem lernen. Daher wäre es vielleicht sinnvoll, einmal zu prüfen, ob sich die homologen Zuschreibungen der Figuren und die Beschaffenheit der Parabel nicht einmal von ihrem intendierten Kern lösen ließen. Gerade in der Gegenwart, in der sich einerseits angstproduzierende Metaphern wie die der „Schweinegrippe“ rasanter als das ihm zugrunde liegende Virus verbreiten, könnte eine Interpretation der Revolution als Infektionsmetapher interessante Sichtweisen darüber zutage fördern, wie derartig medizinische und soziale Ansteckungsprozesse öffentlich und kulturell diskutiert werden. Die Basismetapher – das Schwein als Auslöser der Epidemie/Revolte – bringen beide Phänomene ja bereits mit. Oder die derzeit mit ebensolcher Intensität durch die Medien geisternde Wirtschaftskrise: Ließe sich in der durch die Stalinisten-Schweine hervorgerufenen Pervertierung des zentralistisch organisierten Hofes, der mehr und mehr in einen verkappten Kapitalismus mit Ausbeutung seiner Arbeiterklasse umschlägt, nicht auch Parallelen zur Pervertierung der Marktwirtschaft sehen? Hier wie dort könnte schließlich die zunehmende Undurchsichtigkeit wirtschaftlicher Prozesse für den Kollaps verantwortlich gemacht werden – die jetzt etwa durch Gesine Schwan und andere herbeigeredeten sozialen Unruhen hat Orwell ja ebenfalls als dystopisches Bild an das Ende von „Animal Farm“ gestellt.

animalfarm3Die in über 40 Jahren Kalter Krieg entstandenen Artefakte könnten ein gutes Beispiel dafür sein, dass Kunst nicht ausschließlich aus zeit- und kunsthistorischer Perspektive gelesen werden muss. Kunst aktualisiert sich stets im Rezipienten, ganz unabhängig davon, wann sie rezipiert wird – niemand schaut zwei mal denselben Film. Die in den Kulturwissenschaften kursierenden Ansätze des Anti-Intentionalismus und des damit verbundenen „Tod des Autors“ (Barthes/Foucault) sind zu abstrakt für eine öffentliche Kunstdebatte – man muss nur einmal einen Tag lang durch eine Ausstellung mit moderner Kunst gehen und Aussagen, die die Besucher dazu formulieren aufschnappen, um zu erfahren, dass die Emanzipation des eignen Urteils (also Barthes „Geburt des Lesers“) noch keineswegs überall als sinnvoll erscheint. Umso wichtiger könnte es sein, dieses (Selbst)Verständnis dort zu säen, wo das Denken über Kunst beginnt: in der Schule. Dass sich daraus didaktische Schwierigkeiten ergeben, wie sie oben nur kurz und ganz unfachmännisch angerissen worden sind, ist klar. Ein Kinderfilm wie „Animal Farm“ –  zumal in seiner die Lektüre „anleitenden“ – Ausstattung wie auf der vorliegenden DVD könnte aber einen interessanten Ansatzpunkt dafür liefern.

Animal Farm
(GB 1954)
Regie: Joy Batchelor & John Halas; Buch: George Orwell; Animationen: John Reed; Musik: Matyas Seiber
Länge: 70 Minuten
Verleih: Winklerfilm

Die DVD von Winklerfilm

Bestechend an der Wiederveröffentlichung von „Animal Farm“ auf DVD sind vor allem die Extras. Hier vinden sich neben biografischen Daten zu George Orwell auf der Innenseite des Covers vor allem zahlreiche Zusatzinformationen auf der DVD selbst:

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Sprache/Ton: Deutsch DD 1.0, Englisch DD 1.0
Untertitel: Deutsch, Englisch
Bildformat: 1,33:1
Laufzeit: 70 Min. (Hauptfilm) und ca. 31 Min. (Bonus)
Bonus: Making Of, Trailer, Audiokommentar vom Filmhistoriker Brian Sibley (Englisch ohne Untertitel), Symbole im Film, Gesetze der Animal Farm, DVD-Rom Teil (Englisch): Comic, Lehrunterlagen, Zeitungskritiken, Malvorlagen
FSK: ab 6 Jahren
Preis: 17,95 Euro

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