Reine Anschauungssache

Die Frage, wo der voyeuristische Blick beginnt und wo seine Grenzen liegen, war schon häufig Teil kulturwissenschaftlicher Überlegungen. Spätestens seit Freud gilt die Lust am Sehen auch als essentieller Bestandteil des sexuellen Reizes, der ganz bestimmten Regeln und Formen unterliegt, die es erlauben den Voyeur sehr nuanciert beispielsweise vom Spanner zu differenzieren. Der Voyeur lässt sich in Kunst und Literatur, vor allem in den Darstellungen seit Beginn des 18. Jahrhunderts, aber nicht mehr einfach nur auf ein randgängiges Phänomen reduzieren, er wird zum Schaulustigen, der sich an jeder Art des optischen Reizes zu verlustieren weiß, ohne jedoch diese eindeutig sexuelle Referenz zu erfüllen. Voyeur ist nicht gleich Voyeur. Und dennoch wird dem „Voyeurismus“ noch heute eine gewisse Anrüchigkeit beigemessen, die nicht nur auf das perverse Potenzial des heimlichen Beobachtens zurück zu führen ist, sondern auch ein Urteil darüber darstellt, was man als Angst vor dem Beobachtet-Werden erklären kann.

Schaulust Unter diesen Vorzeichen brachten Ulrich Stadler und Karl Wagner beim Fink-Verlag Mitte 2005 eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Schaulust“ heraus, die zahlreiche Autoren, vorwiegend aus der Germanistisch-Literaturwissenschaftlichen Riege, versammelt, um den Begriff des Voyeurs, des Schaulustigen, des Spanners, kurz: um die Strategien des verbotenen Blicks, zu beleuchten. Unter den Texten befindet sich auch ein Aufsatz des Lacan-Kenners Peter Widmer, der zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse über die Lacansche Theorie des Sehens vorstellt, aber dennoch auf hohem Niveau einen gut komponierten Abriss über die Begriffe des Objekts a, des Phallus, der Neurose und vor allem des Blinden Flecks – also dem Unsichtbaren des Sehvorganges – liefert und deren Bedeutung für die Theorie des Voyeurs noch einmal geschickt in Szene setzt (auch wenn einige Formulierungen zweifelsohne aus dem 2004 bei Transcript erschienen „Angst“ Band bekannt sind).

Viele der Aufsätze sind literaturwissenschaftlicher couleur, was den Band demnach vor allem für Literaturwissenschaftler interessant macht. Klassiker wie Kafka, Sophie von La Roche oder Brigitte Kronauer werden unter dem Aspekt der Schaulust und des verbotenen Blickes untersucht, wobei der Essay von Konstanze Fliedel über „Voyeurismus und Dekandenz“ neben Widmers Arbeit einen der Höhepunkte der Ausgabe markiert. Mit Focus auf die Dekadenzliteratur unternimmt die Autorin eine psychologische Abgrenzung des Voyeurbegriffs, den sie vor allem auf das männliche Geschlecht anwendbar sieht, um dann an einigen Beispielen der fin de siècle-Literatur die Blickrichtung umzukehren und Momente weiblicher Schaulust auf sehr gekonnte, intelligente Weise herauszustellen.

Das Thema des Bandes ist freilich nicht neu; es ist jedoch erstaunlich, dass der Schwerpunkt der Sammlung auf dem 18. – 20. Jahrhunder liegt, was von den Herrausgebern weder „gewünscht oder gar gefordert“ war. Dass nun gerade diese Epoche verstärkt in den Blick fällt, lässt vermuten, dass hier die Momente eines optischen Primats in der Gesellschaft besonders deutlich hervortreten. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass unter den fünf Sinnen dem Sehsinn in der westliche Kultur eine verstärkte Auferksamkeit entgegengebracht wird. Der Voyeurismus könnte somit als ein ausgewiesenes Phänomen dieser Epoche gelten und ist demnach nicht nur unter literaturwissenschaftlicher Perspektive ein hochspannendes Thema. Über den Voyeur und seine Spielarten ist das letzte Wort jedoch noch lange nicht geschrieben und „Schaulust“ gibt ganz gewiss Anregungen für mehr.

Ulrich Stadler; Karl Wagner (Hrsgg.)
Schaulust
Heimliche und verpönte Blicke in Literatur und Kunst
München: Wilhelm Fink Verlag 2005
166 Seiten (Paperback)
22,90 Euro
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