Mortifikation des Werkes

Spätestens seit der Veröffentlichung des fragmentarisch gebliebenen „Passagen-Werkes“ 1983 gilt Walter Benjamin als einer der wichtigsten Denker der Moderne (im subjektiven wie objektiven Sinne). Seine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Texte gelten nicht nur als Mitbegründungschriften von Kultur- und Medienwissenschaft – sie geben auch intellektuelles Zeugnis eines unkonventionellen Denkers, der trotz aller Widrigkeiten Position bezogen und behalten hat. Das mehrere Tausend Seiten umfassende Gesamtwerk, das als Gesammelte Schriften im Suhrkamp-Verlag vorliegt in einer Einführung zusammenzufassen scheint ein gewagtes Unterfangen. Gewagter umso mehr, als Benjamin auf den ersten Blick keineswegs zu den systematischen Denkern gezählt werden kann. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Sven Kramer hat es dennoch versucht und es ist geglückt.


Denn Kramer subsummiert die Schriften Benjamins unter vier Kategorien, die sich systematisch auswerten lassen. Im Abschnitt „Sprachtheorie“ stellt er zunächst Benjamins, in seiner Habilitationsschrift „Ursprung des Deutschen Trauerspiels“ vorangestellte Entwicklung und Theorie der Sprache vor. Diese wird von Benjamin vor allem in seinen übersetzungstheoretischen Werken angewandt und ausgebaut – auch diesem Aspekt widmet Kramer ein Unterkapitel, sowie auch der Frage sprachlicher Mimesis, die Benjamin in zwei Aufsätzen stellt. Mimesis ist Benjamin zufolge das unbewusste Vermögen des Menschen, Gleichartigkeiten zu erkennen, was ihm Erkenntnis der Welt überhaupt erst ermöglicht.

Im zweiten abschnitt über „Ästhetik“ kommt zunächst Benjamins Verständnis von Kritik zur Sprache. Da er nach seiner akademischen Karriere (die mit der Ablehnung der Habilitationsschrift für ihn beendet war) vor allem als Essayist und Kritiker tätig war, liegen zahlreiche Kritiken und Rezensionen von Benjamin vor, in denen er sein theoretisches Verständnis und die Aufgabe des Kritikers plastisch zur Anwendung bringt. Wesentlich ist für Benjamin, dass das zu kritisierende Werk immer schon selbst Kritik darstellt – weswegen er es „Reflexionsmedium“ nennt. So erhält der Kritiker im Sinne Benjamins eine gänzlich neue Aufgabe: „Die Kritik arbeitet [..] inmitten des Sachgehalts, jedoch ist sie anders ausgerichtet, indem sie die philosophischen Probleme fokussiert, die jedes einzelne Werk aufruft. Sie liest ein Werk, als sei durch seine je eigene Gestalt eine ‚virtuelle Formulierbarkeit seines Warheitsgehaltes‘ gegeben.“ (48) Die in Benjamins Ästheitik wohl wichtigsten Begriffe „Symbol und Allegorie“ sind bilden das Zentrum des zweiten Abschnittes. Vor allem die Allegorie entzieht Benjamin ihrer „klassichen“ Bedeutung – anhand der Diskussion von Goethes Wahlverwandschaften. Keine „konventionalisierte Bedeutung zwischen Zeichen und Bedeutung“, sondern – analog zur strukturalistischen Zeichenauffassung – Beliebigkeit der Bedeutung prägt Benjamins Allegorie-Begriff. Dies eröffnet ihm die Möglichkeit „alles mit allem zu kombinieren und bedeutungsvolle Verbindungen aufzurichten.“ (57) Eine Theorie, die bei Benjamin in den Dreißigerjahren auch in seine Neuinterpretation der marxistischen Warenanalyse einfließt: „Die Entwertung der Dingwelt in der Allegorie wird innerhalb der Dingwelt selbst durch die Ware überboten.“ (Über einige Motive bei Baudelaire).

Der dritte und umfangreichste Abschnitt der Einführung widmet sich Benjamin als Medientheoretiker. Neben seiner Arbeit als Kunstkritiker, der sein neues Kritik-Verständnis auch hier greifen lässt, schildert Kramer die Beziehungen Benjamins zu Brecht und der Umsetzung dessen V-Effektes, der Ähnlichkeiten zu Benjamins Verständnis von „Schock“ (Chok) besitzt. Dieser wird vor allem in Benjamins Betrachtungen zum Film als reproduzierbares Kunstwerk bedeutsam. Dem wohl meistzitierten Aufsatz widmet Kramer ein ganzes Unterkapitel, in dem er die Begriffe und Implikationen Benjamins herausstellt.

Im letzten Abschnitte des Buches gelangt Benjamin als Geschichtstheoretiker in den Fokus. Hier wird nicht nur das eingangs erwähnte, Fragment gebliebene „Passagen-Werk“ als Programm einer Geschichtsschreibung der modernen Wahrnehmung (im Kontrast zur individuellen Wahrnehmung von Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“) erörtert, sondern vor allem auch – im Dialog mit Adorno – Benjamins Fortschrittskritik und Dialektik-Begriff. Adornos Kritik an Benjamin, dass dieser in seinen historischen Betrachtungen zu sehr „in der staunende[n] Darstellung der bloßen Faktizität“ (Adorno) verweile, anstatt die Theorie ins Feld zu führen, nutzt Kramer, um Benjamins Werk in diesem Moment Systematik zuzusprechen: Indem Benjamin die Kritik Adornos zurückweist und sein „philologisches Interesse“ betont, werden die Aspekte von Sprachtheorie (Benjamins Monadologie), Warenanalyse und (Gebrauchs-)Kunstauffassung (die wesentlich „positiver“ ist, als die Adornos) zusammengeführt.

Die Einführung vermag auf nur 135 Seiten einen guten Überblick und einen ersten Einstieg in das zunächst scheinbar unübersichtliche Denken und Werk Benjamins zu liefern. Kramers Vorgehen – die Einteilung in vier Theoriebereiche – ist dabei ein besonderer Gewinn, weil sie Benjamin dem Leser aus spezifischen Fragestellungen heraus nahebringt. Einzelne, kanonische Texte Benjamins, die sich um diese Fragestellungen gruppieren, werden durch solche Texte ergänzt, die seltener in den Fokus dieser Betrachtungen rücken. Damit wird ein gleichsam spezifischer/individueller und „globaler“ Zugriff auf Benjamins Denken möglich.

Sven Kramer
Walter Benjamin zur Einführung
Hamburg: Junius 2003
162 Seiten (Taschenbuch)
11,50 Euro

Stefan Höltgen

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