Thomas Koebner (Hg.): Diesseits der „Dämonischen Leinwand“, Frankfurt am Main: Edition Text & Kritik 2003
Die in den letzten Jahren als Monografien, Sammelbände oder Studien zu einzelnen Regisseuren erschienenen „neuen Perspektiven“ auf das Weimarer Kino zeigen, dass es in dem Korpus der international immer noch berühmtesten Epoche der deutschen Filmgeschichte noch vieles zu entdecken gibt. Sie zeigen darüber hinaus, dass die beiden historischen Standardwerke, Siegfried Kracauers Von Caligari zu Hitler (1947) und Lotte Eisners Die dämonische Leinwand (1956) dabei längst nicht den Status des Historischen erreicht haben, der es erlaubte, von ihnen abzusehen. Vielmehr sieht sich Thomas Koebner in seinem einleitenden Artikel aus einer „bestürzenden“ Wiederbegegnung mit Kracauers Filmkritiken der 20er Jahre und dem daraus abstrahierten späteren Buch zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung veranlasst. Sie polemisiert gegen Kracauers freudianisch massenpsychologisch fundierte Hauptthese zum Weimarer Kino, die im Titel bündig zusammen gefasst ist. Koebner stellt sie von der im Allgemeinen von der multiplen und rationalen Herstellungsweise des Films und im Besonderen vom sonst so kühlen Blick des Soziologen Kracauer her in Frage, um für neue Paradigmen in der Perspektive zu plädieren. Um die bemühen sich dann auch die mehr als 20 weiteren Beiträge des Bandes, indem sie sich Einzelphänomene und einzelne Filme zu analysieren. Schon das thematische Spektrum zeigt den Reichtum des „späten“ (auch diese berechtigte Differenzierung innerhalb von 15 Jahren ist ein Indiz) Weimarer Kinos, das gewiss mit einlinigen Thesen nicht zu erfassen ist. Das heißt aber auch, dass der Band – wie bei der Vielzahl der AutorInnen nicht anders zu erwarten – auf eine bestimmte Perspektive oder Leitthese bei der Darstellung des Weimarer Kinos verzichtet. Die Beiträge werden gebündelt in den Themenkomplexen „Filmische Technik, visuelle Kultur, Großstadt-Wahrnehmung“, „Genres, Leitfiguren“ und „Film in einer Republik, Zukunftsperspektiven“.
Fündig wird hier, wer nach Bestimmtem sucht. Bei oft besprochenen Klassikern wie Murnaus Der letzte Mann, Pabsts Die Büchse der Pandora, Jutzis Berlin Alexanderplatz oder auch beim Genre Großstadtfilm liegt der Gewinn der neuen Sichtung manchmal zunächst darin, die gängigen und immer wieder kolportierten Klischees der Beurteilung gegen den Strich zu bürsten mit einem tatsächlich vorurteilsfreien Blick zu beurteilen bzw. in den Kontext gegenwärtiger theoretischer Perspektiven zu stellen. Hilfreich gegen die Sogwirkung der konventionellen Irrationalismus-Deutungen des Weimarer Kinos bleibt es auch, sie mit der zeitgenössischen „Neuen Sachlichkeit“ zu konterkarieren und die, im Sinne des einleitenden Artikels, als Stilprinzip in einer ganzen Reihe den Filmen zu zeigen. Zudem scheint auch ein „altes“ Thema der Filmwissenschaft wie die Selbstreferenzialität des Films „neue Perspektiven“ auf einzelne Filme zu ermöglichen, und wenig beachtete Genres wie der Militärschwank, Jugendfilme oder die erst in letzter Zeit interessant gewordene Tonfilm-Operette sind zusätzlich geeignet, den Ort „diesseits der dämonischen Leinwand“ für die Mehrzahl der Filmproduktionen im fraglichen Zeitraum zu reklamieren.
Thomas Koebner (Hrsg.)
Diesseits der ›Dämonischen Leinwand‹. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino
Frankfurt am Main: Edition Text & Kritik 2003
472 Seiten (Paperback)
35,00 Euro
Dr. Sigrid Lange