Die Diskussionen darüber, ob der Holocaust zum Gegenstand eines kommerziell ausgerichteten Massenkinos werden darf, wurden spätestens mit "Schindlers Liste" eröffnet. Seitdem reißt die Kette der groß angelegten Filmproduktionen, die der Betroffenheit, die dieses Thema beim Zuschauer auszulösen vermag, den unterhaltenden Aspekt abzugewinnen versuchen, nicht ab. "Der letzte Zug" erinnert zwar in seinem Plot und dem Setting an ein engagiertes Dokudrama, erweist sich aber recht bald als ein brutaler klaustrophobischer Thriller, der die Spannung mittels melodramatischer Elemente aufrechterhält und bisweilen fast ins Unerträgliche steigert.
Schnell und präzise wird die Ausgangssituation vorgestellt: die letzten Juden Berlins müssen im Jahre 1943 in Tierwaggons nach Auschwitz abtransportiert werden. Gestapo hat es eilig, um dem Führer zu seinem Geburtstag, wie es heißt, ein "judenreines Berlin" schenken zu können. Das gibt dem Film bereits von Anfang an eine gute Spannungskurve: Die Hauptfiguren lernen wir direkt in der Extremsituation einer nächtlichen Verhaftung kennen. Drei jüdische Paare, die später im Mittelpunkt der Handlung stehen werden, verkörpern jedes neben einem bestimmtes Lebensalter (Jugend, Reife und fortgeschrittene Jahre) auch diverse menschliche Eigenschaften, die ihnen sofort Sympathien der Zuschauer einbringen: Tapferkeit, Weisheit, Lebensmut. Durch ihre anmutige Art werden wir ständig daran erinnert, dass es hier nicht einfach nur Menschen, sondern bessere Menschen dem Untergang geweiht sind, was die Identifikation des Publikums mit den Charakteren natürlich verstärkt, die Holocaust-Tragödie jedoch banalisiert und den pop-kulturellen Klischees anpasst, wie wir sie beispielsweise aus Abenteuer- oder Katastrophenfilmen kennen.
Die Reise der Inhaftierten in den Tod, die den eigentlichen Kern der Handlung bildet, erinnert auch in ihrer Inszenierung sehr stark an ein Katastrophenfilmszenario. Auf einem äußerst engen Raum müssen die Menschen ohne Nahrung und Wasser mehrere Tage überleben und sich auch noch zu befreien versuchen. Während das ältere Paar gegen die sich schnell ausbreitende Panik mit (jüdischem) Humor und natürlichem Optimismus ankämpft, stellt die jüngere Generation ihre physische Stärke und Geschicklichkeit unter Beweis. Interessant, wie der Film hier den Topos von abgemagerten, resignierten Holocaust-Körpern umdeutet, indem er die Opfer als äußerst muskulös und kampfwillig darstellt. Umso eindrücklicher ist die Tatsache, dass sie es trotzdem nicht wirklich mit der Nazi-Vernichtungsmaschine aufnehmen können. Es liegt nahe, die Reise mit "dem letzten Zug" mit der menschlichen Existenz überhaupt zu vergleichen, an deren Ende bekanntlich nichts außer Tod steht. Die kurzen Rückblenden, die uns in das frühere Leben der Protagonisten einweihen, lassen schmerzlich bewusst werden, dass es hier um gewaltsam abgebrochene Schicksale geht, die bis in die letzte Konsequenz noch verzweifelt um ihre Erfüllung ringen. Gerade dank dieser metaphorischen Dimension, die den Zuschauer zum Mitfiebern zwingt, hebt sich der Film vom Mittelmaß des Genrekinos ab und wird zu einem ästhetischen und emotionalen Erlebnis.
Die Reflexionen über die Ursprünge und Mechanismen der Menschenverfolgung im dritten Reich bleiben jedoch eher oberflächlich. Der Abtransport wird von einem jungen deutschen Hauptmann geleitet, der sich dermaßen vom Diensteifer blenden lässt, dass da praktisch nichts menschliches mehr zu erkennen ist. Diejenigen Soldaten, die ihre Menschlichkeit irgendwie noch bewahren konnten, erweisen sich dagegen als Helfer der Juden, indem sie trotz des ausdrücklichen Verbots an einem Haltepunkt Brot an die hungernden Opfer verteilen. Die Nazi-Ideologie wird also mit dem Verweis auf die Monstrosität der eigentlichen Täter denkbar einfach abgetan. Im Übrigen bekommt das Verbrechen an den Juden einen internationalen Charakter, denn noch mehr als die Gestapo fürchten die im Zug eingeschlossenen Häftlinge die ukrainische SS. "Das sind die wahren Teufel!", wie es einmal heißt. Und tatsächlich übertreffen die Ukrainer an der Unmenschlichkeit selbst den kaltblütigen deutschen Hauptmann, der entsetzt zur Waffe greifen muss, um ihrer makabren Willkür ein Ende zu setzen. Die polnische Herkunft der Lokführer tut ihr übriges, um die Holocaust-Schuld gleichmäßiger unter den Völkern zu verteilen. Ob dies zur Objektivierung des Geschichtsbildes beiträgt oder eher revisionistische Tendenzen bedient, muss jeder Zuschauer selbst beurteilen.
Der letzte Zug
Deutschland 2006
Regie: Joseph Vilsmaier, Dana Vávrová; Buch: Stephan Glantz; Musik: Chris Heyne; Kamera: Helmfried Kober; Schnitt: Uli Schön
Darsteller: Gedeon Burkhard, Lale Yavas, Lena Beyerling, Juraj Kukura u.a. Länge: 123 Minuten Verleih: Concorde