Lauter Jugendliche in einem Film über Erwachsene

Es ist recht einfach, in „Dear Wendy“ eine Satire auf die amerikanische Schusswaffenfixiertheit zu sehen. Da gibt es den Protagonisten Dick, der sich selbst als überzeugten Pazifisten bezeichnet, bis ihm eines Tages eine Pistole in die Hände fällt. Vor dem Dilemma, weder seinen Pazifismus noch Wendy – so nennt er die Waffe – aufgeben zu wollen, erfindet er den Club der „Dandies“: Eine Gruppe jugendlicher Außenseiter, die ihre Waffen liebevoll hegen und pflegen und heimlich in einem verlassenen Minenstollen mit ihnen trainieren. Dabei leisten sie einen Schwur, ihre Waffe nie außerhalb der Mine abzufeuern, da sie sonst „erwachen“ würde, und das Töten dann nicht mehr aufzuhalten wäre.

„Dear Wendy“ ist weit mehr als nur eine Satire auf den Waffenfanatismus, sondern gleichzeitig auch eine profunde Analyse dieses Phänomens. Die Waffen sind für die Jugendlichen ein wichtiger Baustein ihrer Selbstdefinition und Fundament für ihr Selbstvertrauen. Besonders deutlich wird das, als Susan, das vormals schüchterne Mädchen, glaubt, ihren plötzlichen körperlichen Reifeprozess mit dem Eintritt in den Club der „Dandies“ begründen zu können. Und dann ist da der körperlich behinderte Huey, der auf einmal zum Frauenheld wird, seit er eine Waffe bei sich trägt.

Auch spielt Regisseur Thomas Vinterberg gerne mit der Erwartungshaltung eines Publikums, das eine durchschaubare Satire erwartet: Als die „Dandies“ ein neues Mitglied, den farbigen Sebastian, aufnehmen, kommt damit Unruhe in den bislang harmlosen Club. Nur ist es gar nicht Sebastian, der diese Unruhe (direkt) verursacht. Aber er ist ein ausgezeichneter Schütze, und damit ein Konkurrent für den Anführer Dick, der bisher mit seiner Wendy am besten umgehen konnte. Und schließlich ist es Sebastians Großmutter Clarabelle, die den Untergang der „Dandies“ überhaupt erst verursacht: Von Angst vor nicht existierenden „Gangs“ zerfressen traut sich die alte Dame nicht mehr – buchstäblich – über die Straße, also bieten die Jugendlichen ihren Geleitschutz an, damit Clarabelle ihre Cousine besuchen kann. Als der alten Frau die Handtasche aus der Hand fällt und ein herbeieilender Hilfssheriff ihr helfen will, gerät sie in Panik und erschießt den Polizisten mit einer Schrotflinte.

Die Protagonisten in „Dear Wendy“ sind Helden, keine Anti-Helden, und das war wohl auch der FSK ein Dorn im Auge, die dem Film kürzlich „Keine Jugendfreigabe“ erteilte. Es sind Außenseiter der Gesellschaft, die typischen netten Jungs von nebenan – auch der Sheriff betont immer wieder, dass Dick ein „good boy“ sei -, und sie wandeln sich nicht einmal zum Schlechten im Verlauf des Films. Als die „Dandies“ am Schluß der polizeilichen Übermacht entgegentreten, so ist dieser Shoot-out wie ein Western inszeniert, in einer reduzierten Westernstadt, deren Grundriss dem der Kulisse von Lars von Triers „Dogville“ sehr ähnlich sieht. Die unverstandenen Helden treten ihren Unterdrückern entgegen und sterben natürlich den Heldentod, vergleichbar mit den „Heroic Bloodshed“-Filmen eines John Woo. Die Jugendlichen lehnen sich nicht gegen Recht und Ordnung auf, sie verteidigen nur das, was sie selbst für Recht und Ordnung halten – nämlich den Besitz ihrer Schusswaffen. Und außerdem: Was haben sie denn schon falsch gemacht, dass sie jetzt plötzlich der Polizei entgegentreten müssen? Sie wollten doch nur einer alten Frau über die Straße helfen und sie beschützen, und für diese Aufgabe muss man eben bewaffnet sein.

„Wenn ich sterbe, dann soll es durch eine deiner Kugeln sein, liebe Wendy“, schreibt Dick im Abschiedsbrief an seine Waffe. Seine Gefährten äußern keinen solchen Wunsch, und sie sterben im Kugelhagel der Polizisten: In Zeitlupe fliegen da die Patronen, und die tödlichen Einschüsse werden gar in Röntgenaufnahmen gezeigt, das Kaliber im Untertitel angegeben. „Dear Wendy“ handelt von Jugendlichen, und bedient sich einer Ästhetik aus Zeitlupen, schnellen Schnitten und verfremdeten Bildern, die seine Protagonisten zu coolen Helden stilisiert. Somit zeigt der Film diese Jugendlichen aus ihrer eigenen Perspektive, distanzlos und wertneutral, und das ist es, was die Abstraktion so schwer macht. Ein Film für Erwachsene eben, und vor Allem ein Film über Erwachsene.

Dear Wendy
Dänemark/Frankreich/Deutschland/Großbritannien 2005
Regie: Thomas Vinterberg
Buch: Lars von Trier
Kamera: Anthony Dod Mantle; Schnitt: Mikkel E.G. Nielsen; Musik: Benjamin Wallfisch
Mit: Jamie Bell, Bill Pullman, Michael Angarano, Allison Pill, u.v.m.
Laufzeit: 105 Minuten
Verleih: Legend Films/Neue Visionen
Kinostart: 6. Oktober 2005

Matthias Huber

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