Körper_nach_dem_Territorium.

I don’t think that people accept the fact that life doesn’t make sense,
I think it makes people terribly uncomfortable.

DAVID LYNCH
Von Jörg Albrecht


Hören wir auf, über Anfänge zu reden, hören wir auf über das Ende zu reden, schließlich und endlich ist das Ende immer spürbar, vor allem im Kino, wo es uns überdeutlich gezeigt wird, durch die (meist weißen) Schlusstitel, doch im Film stellt sich eine Frage, die auch das Leben nur falsch beantworten kann, wo ist die Mitte, und was passiert in dieser Mitte, und entwischt aus ihr etwas? Kann ein Leben oder ein Film aus sich selbst verschwinden, um in einer anderen Form aufzutauchen und entgrenzt zu sein? Wie kann ein Film mitten in sich selbst aufhören und als ein anderer weitergehen, dann aber doch wieder er selbst werden? Wie kann eine Hauptfigur in einem Kasten verschwinden, (der nicht die Kamera ist, die sind eher schwarz als blau), um dann als eine ihr bekannte Figur aufzutauchen, aber nicht als sie selbst? In all dem, in all diesen Gescheh-nissen mitten in der Mitte, (denn diese Filme hören nicht auf, auch nicht bei den Schlusstiteln, sie sind immer noch da und laufen, auch noch nach Jahren), in all dem sind David Lynchs Filme nicht, was sie scheinen, ebenso wenig wie die Eulen in den Wäldern von Twin Peaks.

In Lynchs Filmen wird allerhand aufgebrochen, vor allem immer wieder Köpfe, und für den, der die Fluchtlinien erkennt, ist längst klar, dass die Körper als die Form von Festigkeit aufgebrochen werden, die sie sein wollen, als Körper, als Umgrenzungen, die Innen und Außen auseinanderhalten, als Territorialitäten, wie Deleuze/Guattari sagen würden. Was da ausbricht aus ihnen, ist fremd, und dieses Fremde erscheint dem Zuschauer als das Unheimliche. Nur was genau ist dieses Unheimliche, Bob in Twin Peaks, der Mystery Man in Lost Highway, das Gesicht hinter dem Diner in Mullholland Drive? Vielleicht etwas, was Innen und Außen bis zum Ununterscheidbaren einander annähert, so wird der Körper zur Membran, wird deterritorialisiert, wieder ganz hinausgetrieben aus dem, was sich Subjekt nennt, autonomes Subjekt, und hineingetrieben in eine Differenzlosigkeit, ein schreiender Kopf, der sich, mehrfach belichtet, hin- und herwirft, aufplatzend und in diesem Aufplatzen einen Weg findend, einen Fluchtweg. Gelbe Mittelstreifen, mit wievielen miles per hour streift der Blick an ihnen entlang, an diesen im Gelb sichtbar eingefangenen Fluchtlinien, (wobei die Fluchtlinien selbst nie einzufangen sind, höchstens das, was wir uns vorstellen, darunter), und dieses Entlangstreifen an den gelben Linien, und dieses Hin- und Herwerfen kann im Film nur heißen: Der Blick löst sich auf.

Film ist darauf aus, das Sichtbare wiederzugeben, ist dadurch aber immer schon mit der Wiedergabe des Gegenteils verbunden, des Unsichtbaren, und unter dieses Unsichtbare muss in David Lynchs Filmen auch noch der Blick selbst gefasst werden, das Auge. »To see is to be an eye, not an I«, schreibt Kathy Acker, und wie im Blicken eigentlich Auge und Ich auseinanderfallen, so auch im Kino des David Lynch. Seine Filme (und seine Fernsehserie auch, doch hier soll es um die Leinwand gehen) denken über sich selbst nach und können daher nicht anders, als sich immer wieder auf sich selbst zu beziehen, sich dabei zu überziehen mit Momenten, in denen Figuren aus dem Screen herausschauen, sich zu überziehen und dennoch nicht überzogen zu sein, auch wenn das Lynch oft vorgeworfen wird, vor die Füße geworfen, von wo aus er es aufhebt, damit sein nächster Film über dieses Vorgeworfene auch wieder nachdenken kann und es somit sofort verwirft.

Zuverlässig lassen die Filme also keinen Moment aus, um sich selbst anzublicken, was auch die Figuren immer wieder versuchen, und genau das macht den Film Lynchs als Film, der ja einer Menge Regeln folgen soll, diesen aber davonläuft, weit vor ihnen herläuft, unzuverlässig. Kino spaltet die Körper und Figuren in mehrere auf, bringt Innen und Außen durcheinander und führt zu einer permanenten Wandlung von Territorialitäten, zu Fluktuationen, Formen von Metamorphose, die an den Oberflächen starten und doch in ganz andere Bereiche vordringen oder schon längst vorgedrungen sind.

Blicke gleiten über Oberflächen, tasten sie ab und lassen durch Unebenheiten erahnen, dass etwas darunter oder dahinter liegt, das ausbrechen will, »I learned that just beneath the surface there’s another world, and still different worlds as you dig deeper.«(1) So oder so bewegt sich die Kamera über diese Oberflächen: Sie fährt an ihnen entlang, so wie an den gelben Mittelstreifen, (Anne Jerslev sagt: der ultrakurzsichtige Blick), oder sie dringt in den beobachteten Körper ein, nicht mit Infrarot, um tosendes Blut und seine Wärme zu orten, ein viel kälterer Blick, eindringend, aber nicht eindringlich, sondern immer schon auf die Innenseite schauend, auf die Oberflächen im Inneren dieser Figurenkörper, ein Ultraschallblick. Solche extreme close-ups, die Lynch liebt, lieben wiederum die Texturen, auf die sie fallen, »I’m obsessed with textures«, sagt Lynch und, »We’re surrounded by so much vinyl that I find myself constantly in pursuit of other textures.«(2)

Textur sein, das trifft und betrifft Körper von Gegenständen oder Menschen, die Elemente eines Raumes oder Sprachliches, in jedem Fall verdecken Texturen das Unheimliche als Fassade, werden aber, während Figuren und Kamera sie ansehen, vom Blick zersetzt, aufgelöst, und dies ist die Zersetzung nicht nur als Zersetzung, sondern als ein Anderes.(3) Eine Kamera, ein abgedunkelter Raum also, fährt in anderen Räumen, die meist auch abgedunkelt sind, über Flächen, und manche von ihnen gehören so ins Schwarz, dass sie kaum abzugrenzen sind vom Nichtbild. Wie kann die Kamera, wenn sich so nah herandrängt an die Oberflächen, einen Überblick behalten geschweige denn gewinnen, und wie kann jemand, der durch diese Kamera sieht, solche Bilder verarbeiten?, (auch das ist ein Denkfehler, der Zuschauer sieht nicht durch die Kamera, es wird ihm aber so nahegelegt, dass er genau so wenig daran vorbei kann wie an den nahen, abgefilmten Texturen, die David Lynch liebt). Zum Beispiel Eraserhead, wenn Henry blickt, (Jack Nance, der in Twin Peaks fast am Ende seines Lebens angekommen zu sein scheint, was später auch wahr wurde), auf den Teppich kann Henry blicken, dort ist nichts, auch wenn der Blick immer mal wieder hin- und herschwenkt, (nicht nur, weil Lynch die Schwenktechnik ausprobieren wollte), dort ist nichts, aber gerade um dieses Nicht-Sein geht es Lynch, warum sollte dieses Nicht-Sein eigentlich weniger sein als das Sein? Auf die Heizung kann Henry auch blicken, später auch in die Heizung und durch ihre Heiz-Rippen hindurch, ein Weg, den natürlich als erste die Kamera zurücklegen muss, um zu den Glühbirnen zu gelangen, zu den Füßen und den Wangen der Lady In The Radiator. (Lebt sie dort oder entsteht sie durch den Blick Henrys, durch unseren Blick, ist das alles nur im Blick und damit in seinem Ursprungsort, dem Hirn?)

Im ultrakurzsichtigen Blick, beim Abtasten der Texturen hineinkippend in den Ultraschallblick, wechselt der gefilmte Körper hin und her, das Hin- und Her-schleudern des Kopfes, ein übersteigertes Kopfschütteln, das selbst nicht weiß, wem es absagen oder was es ansagen will, wird der Körper zum Territorium oder wird er aus diesem Territorium, aus sich selbst befreit? Die Kamera in der Hand oder vor dem Auge, die Stimme an diesem Ort und einem anderen, so dringt der Mystery Man ein in Fred (oder Pete?, oder Fred-Pete-Fred?), so wird das Aufgezeichnete zu einer Möglichkeit, sich selbst zu entkommen, nicht nur, weil man sich selbst sehen und hören kann, so wird das Aufgezeichnete zu einem Mittel des Bösen, das wiederum auch nur ein Anderes ist. Was aber macht dieses Andere aus?, oder anders gefragt, who killed / framed Laura Palmer?(4) Schnitt auf Deleuze und Guattari.

Zwei Zustände, zwischen denen sich alles aufbaut, existieren, in der Kultur, in der Gesellschaft, im Politischen, erst einmal außerhalb von Film, erst einmal, zwei Zustände, die sich gegenseitig ausschließen oder aus dem jeweils anderen herausschießen wollen. Die Differenzierung, diesen geordneten Raum aus instabilen Gebilden, bedroht das Außen, der ureigentliche Zustand, immer darauf aus, aufzulösen. Zwei unterschiedliche Geschwindigkeiten in diesen zwei Strömen, denn die Ordnung verlangsamt das Ungeordnete, jede Sekunde versucht sie, es herunterzureißen in eine niedrige Geschwindigkeit, um Festes bilden zu können, feste, unzerreißbare Territorien. In diese Langsamkeit schneidet das Ungeordnete sich Fluchtlinien, bei Lynch so gern in Gelb und in der Mitte eines verlorenen Highways, so kann Zusammengestautes flüchten, vorerst.

Was anderes aber ist der Körper dann, als so ein eingegrenztes Territorium, und auch in diesen Körper als Ordnung versucht etwas, einzubrechen, oder aus dieser Umgrenzung auszubrechen, sehr schnell, mit wievielen miles per hour. Der Körper als Verlangsamung eines Stroms, genau das ist die Langsamkeit, mit der Lynch in seinen Filmen operiert, nicht nur in The Straight Story, diesem angeblich gar nicht zu Lynchs Welt gehörendem Film, in dem doch, über kleine Dinge, unscheinbar manchmal, wie ein Lichtreflex auf dem Kamerobjektiv, alles seinen Weg findet, im kürzesten Aufblinken. Je mehr Gewalt diesen Körpern angetan wird, je mehr das Unheimliche sie zerreißt, desto langsamer bewegen sie sich, bei Eraserhead noch eine echte Langsamkeit, später, in Blue Velvet und danach, fakes, Zeitlupen, kleinere Bewegungen, kleiner und kleiner.

David Lynch, diesem jüngeren, also kleinen Bruder Kafkas, gelingen so kleine Filme, so wie Kafkas Texte einer kleinen Literatur angehören, sie formen, aber ohne den Territorialitäten zu erliegen. Was anderes tun Lynchs Filme, als sich der großen Filmsprache zu bedienen, nur um sie aufzulösen, als visuelle Maschine arbeiten sie daran, aus der Macht einer Ordnung auszubrechen, die das Subjekt immer noch nicht als ein vielfaches, vielheitliches begreifen will. (Wie die nomadische Kriegsmaschine, die permanent die Territorien des Staates auseinanderschichten, in Ströme zurückverwandeln will, doch auch dieser Staat ist ja nur ein ins Große gedachtes Subjekt, nicht mehr.) Es gilt, einen Prozess aufzuhalten, die Territorialisierung, in der das Subjekt verlangsamt wird, um einen flachen Raum zu strukturieren, zum Beispiel einen Körper, und dem entgegen stellt sich die Deterritorialisierung, in Fluchtlinien, in neuen Strömen, die sich dem Festen entziehen, es genau so wegziehen wie die Füße der Figuren und der Zuschauer Lynchs in manchen seiner Szenen.

»Die Erinnerung ist ein Familienporträt oder Ferienfoto mit Herren, die den Kopf senken, und Damen, die Bänder um den Hals tragen«(5), dieser Satz von Deleuze/Guattari über Kafkas Texte trifft, was die Figuren bei Lynch ausmacht, wo sich auch den Kopf senken, die Männer, aus Angst vor dem eigenen Körper, vor allem auch vor dem weiblichen Körper, der sich in ihrer Nähe befindet, übergroße, deformierte Köpfe wie in The Elephant Man, gespalten, zerstört, hin- und hergerissen, bis, wie in Lost Highway, Blut kommt, auch umgewandelt in einen Radiergummikopf, der sich letzten Endes wenigstens selbst auslöschen kann. Der gesenkte Kopf ist nichts als der territorialisierte Körper, der erhobene Kopf als Deterritorialisierung, auch bei Lynch. Immer aber ist die Fluchtlinie maschinell und erliegt am Ende doch der Territorialität, bleibt liegen in ihr und in sich selbst, so schnell wie sie gezogen worden ist, so schnell begibt sie sich selbst zurück in die abgesteckten Felder. Sprechen Deleuze/Guattari vom Tier-Werden, einer Metamorphose (nicht: einer Metapher!), so ist es bei Lynch in jeder Figur, (auch beim Elephant Man, der atmet wie ein Fabrikschlot), das Maschine-Sein oder Maschine-Werden, und dies in so vielen Spielarten, Maschinen mit so vielen Konstruktionen, von denen die visuelle Maschine eines Mystery Man eine viel zu sichtbare ist, verfolgen wir den Blick, um zwischen den Bildern die anderen zu entdecken.

Das Kino kann allerhand verraten, und das Kino des Gilles Deleuze sicher noch mehr, mit seinen zwei Zuständen, dem Zeit-Bild und dem Bewegungs-Bild, beide auf Bergson zurückgreifend, auf eine Vielzahl von Filmen zurückgreifend und Lynch vorgreifend. So setzt Deleuze Bild und Bewegung im Kino gleich, nicht die in der Malerei und später mit Daguerres, dann Fox/Talbots Erfindung gemachten Bilder werden in Bewegung versetzt, (laufen lernen sollen die Dinge ja über die Fluchtlinien), hier ordnet sich das Bild der Bewegung unter und zirkuliert in ihr.(6) Was der Körper des Menschen daraus macht, aus dieser Bewegung, aus ungeordneten Strömen der bewegten Bilder werden feste Zustände, (Charaktere zum Beispiel, Orte zum Beispiel, das, woran man sich festhalten kann, in einem Film).(7) Die Chance des Kinos aber, schreibt Deleuze, besteht darin, diese Kadrierung umzukehren, dieses Sinneinspritzen von allen Seiten abzuwehren, sich in die Unordnung zurück zu begeben, in der die Gegenstände lebten, bevor sie einem Blick ausgesetzt wurden, diesem alles auf einen Punkt zentrierenden Blick, und so ist das Dezentrierte, die Deterritorialisierung selbst, das Bewegungs-Bild.(8) Kristallin aber, nicht durchsichtig, sondern in jedem Augenblick auf sich bezogen ist das Zeit-Bild, erschafft sich, ersetzt sich, tilgt sich, (sagt Robbe-Grillet), es springt ständig zwischen den Zuständen hin und her, macht neuen Formen Platz, lässt sich verschieben, aber immer nur in sich selbst, innerhalb einer Zeit, welche niemals linear ist, sondern geschichtet, Gegenwart und zugehörige Vergangenheit dicht bei einander, (oder, wie Derrida sagt, die gegenwärtige und die vergangene Gegenwart). Was Deleuze fordert, ist das Einzige, was dem Kino noch offensteht, um sich zu retten, ein Sprung vom Bewegungsbild zum Zeitbild, in dem das Subjekt nur ein aufgefächertes ist, einmal das und einmal ein anderes, dadurch immer schon das Andere.

Zeit-Bild und Bewegungs-Bild, bilden sie eine Sprache für sich, nein, für uns, die Metafilmsprache von David Lynch, in der sich beide Bilder bereits bewegen, um hoffentlich in die richtige Richtung zu gelangen. Wie das Bewegungs-Bild eine Verflüssigung der Ströme beinhaltet, geht es in Lynchs Filmen um Verflüssigung der Subjekte, wie das Zeit-Bild Chronologie in Schichten umformt, wird der zeitliche Ablauf von Wiederholungen, Abbrüchen und einer Parallelität von Vergangenheit und Zukunft bestimmt, und das mitten in Hollywood, Los Angeles, genauer: Mulholland Drive. Film und Figuren befinden sich ineinander und deterritorialisieren sich gegenseitg, was aber für Wucherungen, Explosionen und Verfestigungen, was für De- und Reterritorialisierungsprozesse?

Immer grenzt an die Bilder etwas an, ein flaches Außen, herandrängende Fluchtlinien, Geräusche auf der Tonspur, die nicht zum Bild gehören, aber von den Figuren im Bild wahrgenommen werden, (Hundebellen in Eraserhead und Lost Highway zum Beispiel). Oft sind es Geräusche von Maschinen, von Elektrizität, sie zirkulieren aber nicht außerhalb des Körpers, sondern sind längst Teil von ihm, hörbare Abläufe des Körpers, die Fabrik, Urheber der Geräusche, der Lungenapparat, das klopfende Herz, eine Tonspur, die mehr sein will als sie für diesen Film sein müsste, die das Außen zum Klingen bringt und damit in Stellung geht, nicht bei den Zuschauern, sondern in Stellung geht, sie Stellung nimmt gegen den synchronen Gebrauch von Ton. Ein Außen drängt herein über den Ton, ein Außen, an das die Körper der Figuren angrenzen, das sie umgrenzen.

Was die Figuren bei Lynch alles durchmachen müssen, neben rasenden Autofahrten, neben synchronisierten Lippen, die doch nicht singen, und neben einem tänzelnden Dämon, neben all dem sind die Körper vielfach im Ungewissen darüber, wie sie in und zu den Räumen stehen. Sie selbst sind Räume, ja, nur sind auch die Räume Körper, und so bleibt der Raum den Figuren fremd, bleibt Oberfläche/Textur, dokumentiert aber bestimmte Prozesse, (Lynch sagt, Architektur als Aufzeichnungsgerät). Noch schlimmer, wenn das Dunkel einfällt in die Räume und beginnt, die Architektur aufzulösen, sie zu deterritorialisieren, genau wie die Räume in dieser Auflösung auch das Dunkel wieder verändern und denjenigen, der mittendrin steht, um gefilmt zu werden. Im Dunkel, diesem Nullzustand, diesem Nichtbild, kann sich der Körper endgültig von einer Repräsentation dessen verabschieden, was er gern wäre, und auch das hängt mit dem Kino an sich zusammen, es sind nun mal vierundzwanzig Bilder pro Sekunde, jeweils durch eine Dunkelphase der gleichen Länge voneinander getrennt, achtundvierzig Hertz für die flimmerfreie Illusion eines bewegten Bildes, auch hier Verflüssigung, zumindest kann man vom Schein einer Verflüssigung sprechen, der ein Nicht-Sein sein mag, doch in diesem Nicht-Sein ist er doch auch.

Bei Lynchs Figuren ist aber nicht nur der Körper, sondern auch das Sprechen der Figuren unzuverlässig, gestört, nicht der eigenen Kontrolle unterworfen, eher einem Außen. Manchmal bleibt uns nichts übrig, als auf diese Störungen zu stoßen, wie bei John Merrick, der sich aufgrund physischer Verformung nur schwer artikulieren kann, manchmal müssen wir hinhören, um zu merken, wie wenig gesprochen wird, obwohl gesprochen wird, zwischen Fred und Renee Madison in Lost Highway beispielsweise. Die Lynchsche Bild- und Tonspur zeigt sich auch hier zuverlässig darin, unzuverlässig zu sein, Sprechen und menschlicher Körper bringen sich gegenseitig an einem anderen Ort außerhalb der Territorien, wo es unmöglich ist, ohne Brüche zu erzählen oder erzählt zu werden.

Wenn Ton- und Bildspur getrennt werden, (das weiß Burroughs), ist das Überleben gescheitert, und genau in diesem Sinn sind Sehen und Gewalt bei David Lynch eins. Kein Wunder, dass in Mulholland Drive ein Mann nur das schreckliche Gesicht, von dem er zuvor geträumt hat, zu erblicken braucht, um daran zu sterben. Oder, wie Elfriede Jelinek schreibt, »Natürlich ist Film Gespenstersehen, aber gerade bei Lynch, wo es nur Gespenster gibt, wird das Gespenstische aufs äußerste real.«(9) Von jeher ist Gespenstsein etwas unkörperliches gewesen, körperliche Gespenster wären dann ja auch auf Fotos zu sehen, darin unterscheiden sich Gespenster von den Untoten, so muss Gespenst-Werden gesehen werden als Prozess der Deterritorialisierung, was die Gespenster mit dem Kino an sich verbindet, das immer unkörperlich war und bleiben wird, und trotz all dem versucht Lynch, einzudringen in den Körper, mit Film.

Lynch sagt, »Or you see pictures of explosions – big explosions they always reminded me of these papillomatous growths on John Merrick’s body. They were like slow explosions.«(10) Selbst wenn die Explosionen an oder in Merrick langsam sind, so sind sie ein Versuch, in einen Zustand nach dem Territorium zu gelangen, ein aus dem Unheimlichen kommender, aber letztlich rettender Versuch, abgebremst, immer wieder abgebremst, wie in der Fluchtszene auf dem Lost Highway Freds Körper kaum noch Körper ist, verformt und schon wieder verformt und wieder, ein Schauplatz für einen Krieg.

Lynch macht den Körper zum Kriegsgebiet, zum stratifizierten Territorium im Kampf zwischen Ordnung und Unordnung, in dem der Körper als Körper nur eine Möglichkeit ist unter vielen, die Haut keine Abgrenzung mehr sein kann, Lynchs Filme dringen in den gefilmten Körper ein, um ihre eigene Unkörperlichkeit zu überwinden, um keine Gespenster zu bleiben, um zum Werden zu gelangen, und daher ist der Film nichts Statisches, kein fester Zustand, sondern wird zur permanenten Geburt, diese Geburt aber ist der Belichtungsvorgang des Films.

Wie Lynch also Fluchtlinien zieht, wie er die Fluchtlinien hineinsieht in seine Filme, selbst in den langsamsten und geradesten noch, lässt das Kino an sich diese Linien finden, und in welche Richtungen sie schießen werden, im Inneren des Inland Empire, kann uns nur die Kamera verraten.

Jörg Albrecht

Anmerkungen:

1. Chris Rodley: Lynch On Lynch, London, Boston 1997, 8.
2. Ebd., 23.
3. Vgl. Anne Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften, Wien 1996, 35.
4. Ulrich Bähr: »Dealing with the human form.« Deformationen als ambigue Zeichen künstlerischer Freiheit und zerstörerischer Macht, in: »A Strange World«. Das Universum des David Lynch, hg. von Eckhard Pabst, 3. Auflage, Kiel 1999, 183-196, hier 192.
5. Deleuze/Guattari 1976, 8.
6. Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1997, 22-26.
7. Vgl. Deleuze 1997a, 84-90.
8. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1997, 53-63.
9. http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/ (24.04.2006))
10. Rodley: Lynch on Lynch, 103.

Bibliografie

Ulrich Bähr: »Dealing with the human form.« Deformationen als ambigue Zeichen künstlerischer Freiheit und zerstörerischer Macht, in: »A Strange World«. Das Universum des David Lynch, hg. von Eckhard Pabst, 3. Auflage, Kiel 1999, 183-196.
Michel Chion: David Lynch, Paris 2001 (zuerst 1992).
Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Aesthetica, Frankfurt/Main 1993.
—: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1997.
—: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1997.
Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Rhizom, Berlin 1977.
—: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt/Main 1976.
Elfriede Jelinek: Lost Highway, www. ourworld. compuserve.com/ home-pages/elfriede (11.10.04).
Anne Jerslev: David Lynch. Mentale Landschaften, Wien 1996.
—: »You’ll never have me.« Visualität und ›gendered meaning‹ bei David Lynch, in: Eckhard Pabst (Hg).: »A Strange World«. Das Universum des David Lynch, 3. Auflage, Kiel 1999, 197-210.
Drehli Robnik: Außengeräusche. Das Intervall, das Sprechen, das Wohnen, das Sound Design und das Ganze in den Filmen von David Lynch, in: Eckhard Pabst (Hg).: »A Strange World«. Das Universum des David Lynch, 3. Auflage, Kiel 1999, 31-46.
Chris Rodley: Lynch on Lynch, London 1997.
Georg Sesslen: David Lynch und seine Filme, Marburg 1994.
Paul Virilio: Krieg und Kino. Logisitik der Wahrnehmung, Frankfurt/Main 1989.
Paul A. Woods: Weirdsville USA. The Obsessive Universe of David Lynch, London 2000.

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