Irrlichter

Das Meeresrauschen hört man schon, während noch die Credits laufen. Sie weichen einem schwarzen Bildschirm über den mehrere große Luftblasen von unten nach oben schweben, bevor sie schließlich unter zunehmendem Rauschen in viele Tausend kleine Bläschen zerstäubt werden, kleine weiße Lichtpunkte. Dann schiebt sich etwas zwischen diese Lichtpunkte, ein Haarschopf oder aber Algen, und ein unangenehmes Kreischen mischt sich in das beruhigende Rauschen des Meeres. Und während dieses Kreischen immer lauter wird, das Schwarz einem Blutrot weicht, verwandeln sich auch die Lichtpunkte noch einmal, werden sie unschärfer, bis sie aussehen wie weit entfernte Sterne, die man mit schwindendem Bewusstsein noch durch halb geschlossene Augenlider wahrnimmt, bevor einen der Schlaf – oder Schlimmeres – übermannt …

51A-TdYTi1L._SS400_[1]Das Ehepaar Jeanne (Emmanuelle Béart) und Paul Bellmer (Rufus Sewell) hat während des Tsunamis, der die Urlauberparadiese an der thailändischen Küste traf, seinen Sohn Joshua verloren. Gemeinsam sind die beiden danach in Thailand geblieben, haben dort eine neue Bleibe gefunden und versuchen nun mehr schlecht als recht den Tod des Sohnes zu verarbeiten. Als Jeanne auf einem Video, das von einer Wohltätigkeitsorganisation in Burma aufgenommen wurde, glaubt, ihren Sohn erkannt zu haben, keimt Hoffnung in ihr auf, die ihr Ehemann zwar nicht teilt, aber sich an die Möglichkeit klammert, dass die Mutter etwas spürt, für das ihm als Vater das Sensorium fehlt. Gemeinsam tritt das Ehepaar die Reise in den burmesischen Urwald an, um den verlorenen Sohn zurückzuholen. Mit der Hilfe eines thailändischen Menschenhändlers überqueren sie die Grenze, doch statt des geliebten Sohnes finden sie etwas anderes …

Der Belgier Fabrice Du Welz verlegte vor ein paar Jahren für sein Spielfilmdebüt „Calvaire – Tortur des Wahnsinns“ das uramerikanische Genre des Backwood-Films in die Flachlandödnis unseres Nachbarlandes und leistete damit einen originellen und verstörenden Beitrag zum modernen Horrorfilm. Auch mit seinem neuen, ungleich größeren Film „Vinyan“ stellt er seinen guten (Film-)Geschmack und sein außerordentliches Geschick zur Rekontextualisierung vermeintlich verbrauchter Stoffe unter Beweis. „Vinyan“ lässt sich auf den ersten Blick als Kombination von Nicolas Roegs Meisterwerk „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ und Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ identifizieren, die er geschickt und Gewinn bringend mit einem etwa im australischen Horrorfilm gängigen Naturmystizismus verbindet. Seine Protagonisten schickt er auf eine Reise, an deren Ende sie nicht nur ihren Sohn nicht gefunden, sondern auch sich selbst verloren haben. Die Grenze zum Wahnsinn wird dabei ganz unmerklich überschritten: Es sind nur kleine inszenatorische Verschiebungen, die signalisieren, dass man als Zuschauer den Bildern nicht mehr uneingeschränkt trauen sollte: eine zunehmend bedrohlicher und fremdartiger wirkende Landschaft, das Verschwinden von Bezugspunkten jenseits des Bellmer-Ehepaars, das verstörende Kreischen auf der Tonspur, das körniger werdende Filmmaterial. Der monsungepeitschte Regenwald tritt immer stärker als Verbildlichung des desolaten Innenlebens der Protagonisten in den Vordergrund, die nicht in der Lage sind, mit dem Eingriff des Unsagbaren in ihr Leben, dem Tod ihres Sohnes, umzugehen. Jeanne flüchtet sich in ihrer Trauer in einen mystischen Irrationalismus, der sie auch von ihrem Ehemann entfremdet; und der gegenüber Jeannes mütterlicher Urgewalt hilflose Paul muss erkennen, dass das, was von seinem männlichen Rationalismus noch übrig ist, ihm umgeben von endloser unbezähmbarer Wildnis nicht mehr helfen wird. Die Männer sind immer die Verlierer in diesen Filmen, weil sie im trügerischen Glauben auf dieser Welt umherirren, alles im Griff zu haben, und die Erkenntnis des Gegenteils sie demzufolge umso härter treffen muss. So sehr sich Paul auch als Führer gibt, versucht, das Ruder in der Hand zu behalten, so sehr ist er doch seiner Frau ausgeliefert. Es ist auch die unbewusste Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit, die ihn ihr folgen lässt.

Fabrice Du Welz erzählt seine Geschichte in überwältigenden Bildern mit kräftigen Farben und starken Kontrasten, die von dem unheimlichen Geschehen auf der Tonspur passend untermalt werden und den Abstieg in den Wahnsinn für den Zuschauer am eigenen Leib erfahrbar machen. Ob Du Welz diese Bilder nun wie bei einer Sequenz in einem nächtlichen Vergnügungsviertel zu Beginn des Films mit einer dynamischen Handkamera einfängt oder aber im weiteren Verlauf des Films zu einer poetischeren, fließenderen Kameraarbeit übergeht, er verliert nie den stilistischen Faden. Besondere Bedeutung kommt innerhalb der Ästhetik von „Vinyan“ der Verwendung von Licht und Lichtquellen zu: Wenn Jeanne in oben erwähnter Sequenz durch die nächtlichen Straßen rennt, um inmitten des Trubels den ihr unbekannten Menschenhändler zu finden, der sie angeblich nach Burma bringen kann, führt ihr Weg sie erst in eine blutrot ausgeleuchtete Stripbar, dann schließlich in ein giftgrün leuchtendes Hinterzimmer, ganz so, als würde sie wie eine Nachtfalter vom Licht angezogen. In einer Schlüsselszene des Films wohnt sie an einer entlegenen Bucht einem Ritual bei, bei dem Menschen mit Kerzen beleuchtete Lampions in den Nachthimmel steigen lassen: Sie erfährt, dass diese Lampions verirrten Geistern den Weg ins Jenseits weisen sollen. Wenn ein Mensch nämlich einen gewaltsamen Tod stirbt, so wird ihr berichtet, erleidet seine Seele einen Schock, sodass sie ihren Weg nicht finden kann. Der so erzürnte Geist, der Vinyan, braucht die Hilfe der Menschen, um auf den rechten Weg geführt und erlöst zu werden. Auf ihrer Reise ins Herz der Finsternis müssen Jeanne und Paul feststellen, dass die Armut in Burma zahlreiche dieser Vinyans erzeugt: Je weiter sie vordringen, umso häufiger begegnen sie mysteriösen und rachsüchtigen Kinderwesen, die elternlos im Urwald umherirren und sie zu verfolgen scheinen. Doch es entzieht sich ihrer Macht, diesen Geistern den richtigen Weg zu weisen: Von der Trauer um den Tod ihres Sohnes überwältigt, auf der Suche nach dem Licht, das sie aus der Trauer führen möge, sind Jeanne und Paul längst selbst zu Vinyans geworden, die den Urwald nie mehr verlassen werden. Die Flut des Lebens hat sie fortgerissen …

Vinyan
(Frankreich/Belgien/Großbritannien/Australien 2008)
Regie: Fabrice Du Welz; Drehbuch: Fabrice Du Welz, Oliver Blackburn, David Greig; Kamera: Benoît Debie; Musik: Francois Eudes; Schnitt: Colin Monie
Darsteller: Emmanuelle Béart, Rufus Sewell, Petch Osathanugrah, Julie Dreyfus, Amporn Pankratok
Länge: ca. 95 Minuten
Verleih: Koch Media

Zur DVD von Koch Media

Koch Media präsentiert „Vinyan“ in technisch sehr ansprechender Form, die der anspruchsvollen visuellen und auditiven Gestaltung mehr als gerecht wird. Trotz der starken Hell-Dunkel-Kontraste, der kräftigen Farben und des wechselnden Filmmaterials gibt es keinerlei Störungen wie Nachzieheffekte oder Unschärfen zu beklagen. Die Tonqualität bietet ebenfalls keinen Anlass zur Kritik: Jeder Gänsehaut verursachende Soundeffekt wälzt sich glasklar aus den Boxen. Als Bonus findet sich ein rund 50-minütiges Making of, das von den zu Promozwecken eingekurbelten Selbstbeweihräucherungen, die man als Beigabe zu Hollywood-Mainstreamfilmen kennt, weit entfernt ist. Kurzum: ein Pflichtkauf.

Bild: 2,35:1 (16:9/anamorph)
Ton: Deutsch (Dolby Digital 5.1, DTS 5.1), Englisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Making of, Trailer
FSK: Ab 16
Preis: 12,99 Euro

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