Im Kreise der Familie

Die eigene Biografie, die Herkunft, die Familie – das sind Themen, die, wenn sie im Horrorfilm zur Sprache kommen, nicht selten die intensivsten Erlebnisse zutage fördern. Schon seit Begründung des Genres in der Schauerromantik war kaum ein Sujet so häufig vertreten, die das des family horror, denn alles, was mit dieser intimen Sphäre des Individuums zu tun hat, hat stets auch mit dem Individuum selbst zu tun: Sag mir, wo du herkommst und ich sage dir, wer du bist. Die filmische Selbstfindung und -situierung in einer Familie ist auch das Thema von Nacho Cerdás „The Abandoned“ – einem Horrorfilm, der auf dem diesjährigen Fantasy-Filmfest lief und nun auf DVD erschienen ist.

abandoned0.jpgCerdá ist abonniert auf fantastische Sujet – bereits in den vier Spielfilmen, die der Spanische Regisseur zuvor gedreht hat, sind es außeralltägliche und fantastische Erlebnisse, die seine Protagonisten durchleben. „The Abandoned“ ist jedoch sein erster Ausflug in den fantastischen Horrorfilm, wenn man sich auf eine solche Lesart des Films überhaupt einlassen will. Es gibt nämlich auch gute Gründe, hinter all dem, was der Protagonistin Mary Jones (Anastasia Hille) zustößt, ein rein psych(ot)isches Geschehen zu vermuten. Anhaltspunkt für eine solche Lesart ist der Grund für die Reise der Amerikanerin nach Russland: Sie will sich auf die Suche nach ihren biografischen Wurzeln begeben, will herausfinden, wer ihre Mutter und ihr Vater waren, wo sie lebten und warum sie verstorben sind. Ein Beamter in Russland versorgt sie mit der Adresse eines Anwesens, auf dem ihre Eltern gelebt haben. Sie reist dorthin und stellt fest, dass das seit über 40 Jahren verlassene Haus durchaus nicht unbewohnt ist. Zunächst trifft sie dort auf ein Abbild ihrer selbst – jedoch mit zombiehaft weißen Augen, dann auf einen Mann, der ihr erklärt, ihr Zwillingsbruder Nicolai (Karel Roden) zu sein. Zusammen entdecken die beiden, dass sie nicht zufällig in diesem Haus sind, dass sie „gerufen“ wurde, damit sich ein Schicksal erfüllt.

abandoned1.jpgAllein an den Eckpunkten des Plots lässt sich der psychologische Horror des Films rekonstruieren. Der „Familienroman“, den Mary für sich abschließen will, erfährt in Konfrontation mit ihrer Vergangenheit eine Wende, die sie sich so nie hat wünschen können. In ihrer Doppelgängerin (Bruder Nicolai besitzt auch solch ein Phantom, das ihn verfolgt), offenbart sich ihr ihr Schicksal: tropfnass ist die ihr bis aufs Haar ähnelnde Frau und deutet an, dass beider Schicksal etwas mit dem Wasser zu tun hat – Mary kann nicht schwimmen. Die zunächst ideelle Reise in die biografische Vergangenheit wird für die beiden Geschwister mehr und mehr zu einer realen Zeitreise. Das Haus scheint sich mehr und mehr zu verjüngen, je näher das Datum des 42. Geburtstags von Mary und Nicolai rückt. Schließlich, in der Geburtstagsnacht vollendet sich der Rückverwandlungsprozess und die beiden werden Zeuge dessen, was sich vor mehr als vier Jahrzehnten abgespielt hat. Entkommen können sie dieser Erkenntnis genauso wenig wie dem Schicksal, das ihnen vorherbestimmt zu sein scheint. So wie es Mary schon zuvor nicht möglich gewesen ist, die Insel, auf der das Haus steht zu verlassen (egal wohin sie gegangen ist, sie stand kurze Zeit später immer wieder vor dem Haus), so kann sie nun auch nicht mehr aus dem für sie vorherbestimmten Alptraum flüchten – immer wieder durchlebt sie dasselbe Schicksal.

Die Familiengeschichte und mit ihr die Aufarbeitung des biografischen Traumas machen aus „The Abandoned“ einen ungewöhnlich reifen und tiefsinnigen Film. Fernab von der Genrekost und jedweder klischeehafter Geisterfilm-Inszenierung wird eine Geschichte aufgebaut, die aus mehreren Gründen „gruselig“ auf ihren Betrachter wirkt. Der Film lebt dabei vor allem von seiner Hauptdarstellerin und der von ihr gespielten Figur. Selten bekommt man eine Frau in diesem Alter in einer solchen Rolle zu Gesicht – ganz so, als wären ab dem vierzigsten Lebensjahr alle biografischen Probleme gelöst oder uninteressant. Dass sie gerade jetzt akut werden, als Marys eigene Tochter erwachsen ist, konstatiert der Film eindringlich. Sein Resümee entwirft dann auch eine Perspektive für die Tochter, die ganz anders als die der Mutter ist und deshalb nicht dasselbe Schicksal zu erleiden braucht.

abandoned2.jpg„The Abandoned“ besticht also vor allem durch seine Figurenzeichnung und die vieldimensionale, komplex gestaltete Erzählung. Über dies führt der Film ein „Russland“ (gedreht wurde zumeist in Bulgarien) vor Augen, das einen ganz eigenen Charakter besitzt und den Protagonisten förmlich als eigenständige Figur gegenüber steht. Es ist weniger die Anthropomorphisierung einer Landschaft als die Versinnbildlichung derselben: „Russland“, das ist für Mary das ganz andere und auf unheimliche Weise doch auch das immer schon eigene. Der Film macht dies durch Totalen auf die endlosen Weiten der Tundra aber auch durch die Kälte, Feuchtigkeit und den sumpfigen Nebel deutlich. Dies alles in kalte Farben gegossen hinterlässt von „The Abandoned“ einen Eindruck zwischen Schönheit und Horror, von einer Heimat, die für diejenigen, die nach ihr suchen, nie heimelig sein kann, in der sie sich verlieren, wie der Blick in den Weiten der Wälder.

The Abandoned
(UK/Bulgarien/Spanien 2006)
Regie: Nacho Cerdá; Buch: Karim Hussain, Nacho Cerdà, Richard Stanley; Musik: Alfons Conde; Kamera: Xavi Giménez; Schnitt: Jorge Macaya
Darsteller: Anastasia Hille, Karel Roden, Valentin Ganev, Paraskeva Djukelova, Carlos Reig-Plaza u. a.
Länge: 95 Minuten
Verleih: e-m-s

Die DVD von e-m-s

Die Bild- und Tonqualität der DVD von „The Abandoned“ ist absolut brillant. Das Skope-Bild des Films vermittelt den authentischen Eindruck der Kinoversion und stellt die Landschaften in ihrer Tiefe und Weite perfekt dar. hinzugefügt wurde dem Film eine Bidergalerie, der Originaltrailer und ein Making of. Einziger Mangelpunkt sind die zumeist unsynchonisierten und ununtertitelten russischen DIaloge, von denen sich nicht wenige im Film finden.

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Bild: 2,35:1 Widescreen (anamorph)
Ton: deutsch (DTS, DD 5.1), englische (DD 5.1)
Untertitel: deutsch
Extras: Trailer, Making of, Bildergalerie
Freigabe: ohne Jugendfreigabe
Erscheinungsdatum: 6.12.2007
Preis: 16,99 Euro

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