Ich ist eine Andere

Anfang der 1920er-Jahre ist das Capgras-Syndrom erstmals beschrieben worden: Eine Patientin wurde in die Psychiatrie eingeliefert, nachdem sie der festen Überzeugung war, ihr Mann sei nicht mehr ihr Mann, sondern durch einen Doppelgänger, der sich jedoch anders verhalte, ausgetauscht worden. Ob und in welchem Maße es diese seltene Form der Paranoia bereits zuvor gegeben hat, ist nicht dokumentiert – sie passt jedoch bestens in das Bild der Moderne des 20. Jahrhunderts, in dem soziale Entfremdungsprozesse auf der einen und ideologische Großsysteme auf der anderen Seite die Identitätsbildung und Identitätsbilder des Individuums so weit beeinflussen, dass es seinen Sinnen nicht mehr traut und sich auch selbst als weitgehend fragmentiert erlebt. Das Capgras-Syndrom hat dann auch bald Eingang in den Spielfilm gefunden: Im Doppelgänger-Motiv, mehr aber noch in den paranoiden Horror- und Science-Fiction-Film, der die ideologische Invasion als außerirdische kodiert hat. Am Ende einer langen und interessanten Kette von Adaptionen steht nun Sean Ellis‘ „The Broken“, dessen Titel vorm Hintergrund der Theorie äußerst vieldeutig erscheint.

brokenDarin wird von einer Radiologin erzählt, der sich bei einem Patienten eine seltene organische Anomalie offenbart: Dessen Röntgenbild zeigt das Herz auf der rechten Seite. Nach Feierabend, als die Frau mit dem Auto schon auf dem Heimweg ist, gerät sie in einen Frontalzusammenstoß mit einem anderen Wagen. Sie erwacht im Krankenhaus und leidet fortan unter partiellem Gedächtnisverlust. Zudem verhalten sich Menschen in ihrem sozialen Umfeld merkwürdig. Ihr Freund scheint gefühlskalt, eine Kollegin ebenso und seltsamerweise bersten überall Spiegel. Als die Frau dann schließlich einer Doppelgängerin von sich selbst begegnet, will sie der Sache auf den Grund gehen. Sie stellt fest, dass sich jemand fremdes in ihr Leben hineindrängt und ihre sozialen Kontakte übernimmt. Das seltsame Verhalten ihrer Bekannten und Familienangehörigen scheint damit zusammenzuhängen. Also nimmt sie die Fährte ihrer Doppelgängerin auf und erfährt dadurch mehr über sich selbst, als ihr lieb ist.

Die Ärztin wird in im Patientengespräch mit einem Trauma-Psychologen direkt mit der Diagnose „Capgras-Syndrom“ konfrontiert, als sie diesem berichtet, dass die Menschen in ihrer Umgebung nicht mehr dieselben sind. Er hält den Eindruck für eine Folge des Unfalls, bei der das Gedächtnis einigen Schaden genommen hat und sich erst nach und nach regeneriert. Doch die Symptome, die sich (dem Zuschauer) außerhalb des Körpers der Leidenden zeigen, sprechen eine andere Sprache: Vor allem die überall zerbrechenden Spiegel und die daraus hervortretenden Doppelgänger – ein uraltes Filmmotiv – zeigen, dass der Film eben kein bloßes Psychogramm ist, sondern sich zu einem handfesten Gruselfilm entwickelt. Und trotzdem lässt sich das Geschehen eben doch wieder – im Sinne der soziologischen Ausgangsfeststellung, dass die moderne Gesellschaft solche Formen von Paranoia (wenngleich in seichterer Form) geradezu provoziert – auf einer metaphorischen Ebene festmachen. Worunter die Frau nämlich eigentlich leidet ist nicht so sehr das plötzliche Anderssein der Anderen, sondern ihr eigenes Anderssein kommt ihr zu Bewusstsein.

Der Film setzt sein Thema äußerst unaufgeregt ins Bild. Im selben Jahr wie „The Broken“ ist noch ein anderer US-amerikanischer Spiegel-Horrorfilm in die Kinos gekommen: „Mirrors“ von Alexande Aja. Und wie sich ein Spiegel zu seinen Fragmenten verhält, verhält sich auch „Mirrors“ zu „The Broken“: Hier Krach, Horror und ein unübersehbarer Zwang zur linearen Helden-Narration, dort Stille, Halbschatten, Grusel und eine fragmentierte Erzählung, die dadurch ihrem Sujet gerecht zu werden versucht. Vor allem das Spiel mit dem Licht ist es, dass „The Broken“ zu einem gleichermaßen unspektakulären und beunruhigendem Gesamteindruck verhilft. Ein Effekt, der im Kino noch voll ausgeschöpft werden konnte, auf dem heimischen Monitor aber leider etwas (im Wortsinne) verblasst. Hier zeigen sich auch die Schwierigkeiten der auf die Pointe hin konstruierten Erzählung viel deutlicher als im Kino. Und so bleibt „The Broken“ am Ende ein unauffälliger Gruselfilm, der jedoch eine Menge Anknüpfungspunkte in die Film- und Kulturgeschichte mitbringt.

The Brøken
(USA 2008)
Regie & Buch: Sean Ellis; Musik: Guy Farley; Kamera: Angus Hudson; Schnitt: Scott Thomas
Darsteller: Lena Headey, Richard Jenkins, Asier Newman, Michelle Duncan, Melvil Poupaud u. a.
Länge: 88 Minuten
Verleih: KOCH

Die DVD von KOCH

KOCH bringt „The Brøken“ gleichzeitig auf DVD und Blu-ray-Disc heraus. An der Qualität der DVD gibt es nichts zu mäkeln. Vor allem die vielen dunklen Passagen des Films werden störungsfrei dargestellt. Als Bonus-Material findet sich auf der DVD leider nur der Trailer des Films, was aber anlässlich des sehr niedrigen Startpreises nur wenig ins Gewicht fällt.

Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Bildformat: 2.35:1 (16:9)
Soundsystem: DTS, Dolby Digital 5.1
Sprache(n): Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Extras: Trailer
FSK: ab 16 Jahren
Preis: 12,99 Euro
Erscheinungsdatum: 26.06.2009

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