Gewinner oder Verlierer?

Der zweite Band der Reihe Film-Konzepte widmet sich mit Charlie Chaplin und Buster Keaton zwei der berühmtesten Kinofiguren und auteurs überhaupt. Aber auch über diese rein filmhistorische Bedeutung hinaus lohnt sich eine Beschäftigung mit Chaplins und Keatons Filmen besonders heute, wie in diesem Band deutlich aufgezeigt wird. Ihre Filme, in denen sie auf zeitgenössische gesellschaftliche Entwicklungen reagierten, erhalten vor dem gegenwärtigen Hintergrund von Arbeitslosigkeit, der zunehmenden Technisierung der Welt, dem Schwinden sozialer Bindungen und der Anonymisierung des Einzelnen nämlich neue Aktualität – ein klassischer Fall von Horizontverschmelzung.

Sowohl Chaplin als auch Keaton zeigen in ihren Filmen Möglichkeiten auf, sich in einer feindlich gesonnenen Gesellschaft, die sich durch Konkurrenzkampf und soziale Kälte auszeichnet, zu behaupten. Zwar sind beide gesellschaftliche Außenseiter, aber haben sie ihre Methoden, den täglich aufs Neue an sie gestellten Herausforderungen zu begegnen. Während Chaplin jedoch am Ende seiner Filme meist derselbe ist wie zu Beginn, ein einsam umherstreunender Vagabund, schwingt sich Keaton nach anfänglichen Niederlagen stets zum großen Triumph auf. Koebner bezeichnet sie daher einleitend als „Verlierer“ (Chaplin) und „Gewinner der Moderne“ (Keaton). Diese interessante Eingangsthese wird im Verlauf des Buches jedoch mehr und mehr relativiert und weicht einem differenzierteren Bild.

Die Autoren der insgesamt sechs Essays (plus einem historischen Kommentar von Hermann Rauschning aus dem Jahr 1972, der auf einem Treffen mit Chaplin im Jahr 1943 beruht) arbeiten sehr verschiedene Aspekte der Figuren heraus, unterstreichen im Kontrast Unterschiede ebenso wie Gemeinsamkeiten. Nach der Lektüre kommt der Leser zu dem Schluss, dass die zunächst offensichtlich erscheinenden Differenzen lediglich oberflächlich sind. Beide Figuren sind ebenso Gewinner wie Verlierer, wenn man sie denn so bezeichnen will: Lediglich die Art, wie sie ihrer Umwelt begegnen unterscheidet sich. Während Chaplin sich einer Anpassung verweigert, sich tänzerisch durch die Unwegsamkeiten hindurch laviert und sich so seine Autonomie bewahrt, behauptet sich Keaton in der Gesellschaft, indem er nicht locker lässt, um Anerkennung kämpft und der Umwelt durch eben diese Beharrlichkeit seinen Stempel aufdrückt. Beide sind und bleiben jedoch Sonderlinge in ihrer Welt, die Autoritäten nicht ohne Weiteres akzeptieren und gegen verhärtete hierarchische Strukturen ankämpfen. Wie man sie bewerten möchte, ist letztlich eine Frage der Beobachterperspektive.

Das Buch bemüht sich trotz des geringen Umfangs um Vielfalt: Thomas Koebners Essay beleuchtet in kurzen Abschnitten verschiedene Aspekte von Chaplins und Keatons Filmpersönlichkeiten. Damit ist er leider der einzige der vertretenen Autoren, der die beiden Künstler direkt vergleichend gegenüberstellt. Susanne Marschall nimmt für ihren Essay „Tänzer – Turner – Träumer: Charlie Chaplin und Buster Keaton“ zwar dasselbe in Anspruch, geht auf Keaton aber nur sporadisch ein. Wohl auch, weil der Tanz, der in ihrem Essay breiten Raum einnimmt, vor allem die charakteristische Körpersprache Chaplins ist. Der zu Beginn erhobene Anspruch, einen direkten Vergleich der beiden Figuren vor dem Hintergrund der Moderne anzustellen, wird so nur bedingt erfüllt. Der geneigte Leser darf sich aber anhand des Textmaterials gewappnet fühlen, sich dieser Aufgabe nach Betrachtung der Filme selbst zu stellen.

Thomas Koebner/Fabienne Liptay (Hrsg.)
Chaplin – Keaton
Verlierer und Gewinner der Moderne
Film-Konzepte
München: edition text+kritik 2006
112 Seiten (broschiert)
14,00 Euro

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