Gegen den Strich

Lang ersehnt, heiß erfleht. Die beiden (meines Erachtens) führenden US- amerikanischen Filmkritiker Roger Ebert und James Berardinelli loben Spielbergs Sciencefiction (einschließlich Hauptdarsteller Tom Cruise) in den höchsten Tönen. Beide vergeben Höchstpunktzahlen, was bei ihnen nicht allzu oft vorkommt. Ebert schreibt, Spielberg habe „Minority Report“ mit Hilfe (!) der neuen technischen Möglichkeiten inszeniert, während andere Regisseure diese Technologien zum Inhalt ihrer Filme machten. Spielberg sei ein Meister der neuen Techniken des Films, aber er setze ausschließlich auf Geschichte und Charaktere.

Spielbergs letztes Leinwandepos – „Artificial Intelligence“ – löste bei etlichen, Publikum wie Kritik, nicht gerade Begeisterungsstürme aus. Ich habe diesen Film geliebt und ich liebe „A.I. – Künstliche Intelligenz“ noch immer. Er basierte auf einer Idee von Stanley Kubrick und meinem Gefühl nach hat er auch viel von Kubricks Art zu filmen. „Minority Report“ ist eine Art Fortsetzung von „A.I.“, wenn auch mit anderen Mitteln und einer anderen Geschichte.

John Anderton (Tom Cruise) ist Lamar Burgess (Max von Sydow) bestes Pferd im Stall. Burgess ist Leiter einer Polizeisondereinheit im Washington des Jahres 2054, die darauf spezialisiert ist, Morde im voraus zu verhindern und die potentiellen Mörder auf Eis zu legen. Ermöglicht wurde dies durch eine zufällige Entdeckung der Wissenschaftlerin Iris Hineman (Lois Smith) die im „genetischen Kampf“ gegen Drogenmissbrauch. Ergebnis sind drei Individuen, die sich nun in einer Nährflüssigkeit in einem von der Außenwelt vollständig abgekapselten Raum im Hauptquartier der Pre-Crime-Polizisten in einer Art Dauerhalbschlaf befinden. Diese drei Pre-Cogs, die beiden Männer Dashiell und Arthur sowie Agatha (Samantha Morton), können Morde voraussehen. Durch ein aufwendiges Verfahren werden die Bilder ihrer Visionen auf einem gläsernen Bildschirm sichtbar gemacht. Sie liefern auf Kugeln die Namen der Opfer und der Täter des zukünftigen Verbrechens. Anderton und seine Kollegen liefern die potentiellen Mörder in einem Raum bei Gideon (Tim Blake Nelson) ab, der als mit allen technologischen Raffinessen ausgestatteter Gefängniswärter über die in Säulen versenkten „Täter“, die den Rest ihres Lebens in eine Art Koma versetzt werden, wacht.

Pre-Crime sorgte dafür, dass es in Washington sechs Jahre lang keinen Mord mehr gab. Nun schickt der karrierebesessene Generalstaatsanwalt seinen Adlatus Danny Witwer (Colin Farrell) in das Hauptquartier mit dem Auftrag, Fehler im System zu entdecken, um das Projekt unter seine Obhut zu bringen und es dann über das gesamte Land auszudehnen.

Anderton ist ganz und gar überzeugt von seiner Arbeit. Das hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass er vor etlichen Jahren seinen Sohn Sean im Schwimmbad verloren hat. Der Junge verschwand damals spurlos. Andertons Frau Lara (Kathryn Morris) hatte ihren Mann daraufhin verlassen. Anderton hat nur noch holografische Aufzeichnungen, die ihn an Sean erinnern und die er sich immer wieder ansieht. Er glaubt, dass sein Sohn ermordet worden ist.

Dann allerdings passiert etwas, was Anderton aus dem Gleichgewicht bringt. Kurz nachdem Witwer den Raum mit den Pre-Cogs inspiziert hat, erscheint auf dem Bildschirm Anderton selbst als Mörder. In 36 Stunden soll er einen gewissen Leo Crow (Mike Binder) erschießen, den er gar nicht kennt. Anderton gelingt die Flucht aus dem Hauptquartier, verfolgt von seinen eigenen Leuten. Er glaubt an eine Manipulation und begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit. Dabei stößt er auf eine unglaubliche Geschichte …

Spielbergs Sciencefiction ist tatsächlich eine phantastisch komponierte Geschichte über die Frage der (staatlichen) Verhaltenskontrolle, hier bezüglich der Mord-Kriminalität, in erster Linie aber eben nicht eine eingeschränkte Auseinandersetzung über die Methoden und Inhalte der Verbrechensbekämpfung, wie einige Filmkritiken suggerieren. Es geht um mehr. Vordergründig ist die Aussage von „Minority Report“ klar und mehr als deutlich: Darf eine staatlich verfasste Gesellschaft – und andere kennen wir heutzutage nicht mehr – in derartiger Weise in das Verhalten eingreifen? Spielbergs Antwort ist so eindeutig „Nein“, wie die Realität uns schon heute ein klares „Ja“ auf diese Frage gibt.

Das, was schon heute unter dem hochtrabenden Titel „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ mit den Mitteln der visuellen Überwachung, der V-Leute und allerlei technischen Finessen in dieser Hinsicht praktiziert wird, schreibt die auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick aus den 50er Jahren stammende Handlung logisch fort. Sicher, die Gedankenleserei, die in „Minority Report“ dargestellt wird, könnte man wie fast jede Sciencefiction-Idee als aberwitzig abtun: So etwas wird es nie geben. So etwas vielleicht nicht. Aber diese Erfindung dient Spielberg ebenso wie die rasanten Verfolgungsjagden und digitalen Tricks „nur“ als Transportmittel einer erschreckenden Bilanz – einer Bilanz der Gegenwart, nicht der Zukunft.

Pre-Crime und Pre-Cogs sind die Kennzeichen einer totalen Aufhebung jeglicher rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Garantien in einer neuen und ganz anderen Form totalitärer Herrschaft, als sie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts darstellten. Die Pre-Cogs werden von der Bevölkerung gefeiert. In einer Szene z.B. krabbeln Techno-Spinnen auf der Suche nach Anderton durch ein Wohnviertel, in dem 29 Menschen ausgemacht wurden, um durch Scannen der Augen deren Identität zu ermitteln. Tom Cruise (Anderton) weiß, in welcher Gefahr er sich befindet. Er legt sich in eine mit Eiswasser gefüllte Badewanne, um seine Körperwärme, auf die die Spinnen programmiert sind, zu senken. Sie finden ihn trotzdem. Inzwischen allerdings hat er die Augen eines anderen. In dieser Sequenz des Films krabbeln die Scan-Spinnen durch allerlei Zimmer der Anwohner, die sich gerade streiten, beim Essen sitzen oder sonst einer Tätigkeit nachgehen. Sie lassen sich durch die Spinnen unterbrechen, scannen, damit ist für sie die Angelegenheit erledigt, und sie streiten, essen weiter. Nur eine Mutter ist besorgt, weil ihre Kinder Angst bekommen. Im großen und ganzen aber hat das Verfahren des Pre-Crime die Akzeptanz der Bevölkerung erlangt. Das Private, das Intime, das durch die Verfassung „eigentlich“ geschützt ist, rangiert nunmehr unterhalb dessen, was die Verfechter von Pre-Crime Sicherheit nennen. Die Erfolgsbilanz scheint ihnen Recht zu geben.

Selbst die Kaufhäuser und sonstigen öffentlichen Gebäude sind durch Kameras überwacht, die die Augen der Besucher und Kunden auf Identität scannen. Die Werbung ist „individuell“ abgestellt auf den einzelnen Konsumenten. Die Werbeleinwände sprechen die Kunden beim Vorbeikommen mit deren Namen an.

Die Umgebung, die Spielberg zeigt, unterscheidet sich nur wenig von der Gegenwart. Zwar fahren hochentwickelte Fahrzeuge nicht nur auf Straßen, sondern bewegen sich auch in der Vertikalen und seitwärts. Doch neben diesen Neuerungen hat sich in 50 Jahren nur wenig geändert. Die Erfinderin der Pre-Cogs, Dr. Iris Hineman, zum Beispiel, die Anderton aufsucht, lebt in einem durch genetisch veränderte Pflanzen (allerdings nur unzureichend) gesicherten alten Haus auf dem Land, umgeben von ihren Pflanzen, die sich fast alle bewegen. Sie lebt in sich zurückgezogen, halb stolz, halb verbittert über ihre Arbeit, die zu Pre-Crime geführt hat. Hilflos, machtlos und im Zweifel darüber, ob Pre-Crime denn nun ein Fortschritt ist oder Ausdruck von Barbarei, doch noch immer ihrer genetischen Forschung verhaftet, wenn auch auf Pflanzen beschränkt.

Auch Lara Anderton lebt mitten in der „unberührten“ Natur, an einem See, zurückgezogen, abseits der Großstadt, fern jeder Hochtechnologie, immer noch in Trauer um ihren verlorenen Sohn. Anderton selbst ist gespalten in eine Person der öffentlichen Verfolgung und in den trauernden Vater. Er glaubt jedoch, mit seiner Arbeit das verhindern zu können, was ihm passiert ist. Er sieht keinen Widerspruch zwischen seinen Erfahrungen und seiner Arbeit, im Gegenteil. Und darin täuscht er sich so gewaltig, wie er es nie geahnt hätte.

Ich muss das an dieser Stelle andeuten, weil es die Brisanz des Films ausmacht: Die grundlegenden Merkmale rechtsstaatlicher Garantien sind u.a. die Unschuldsvermutung (jeder Angeklagte gilt als unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt wurde), der Schutz der Privatsphäre vor staatlichen Eingriffen, das Prinzip in dubio pro reo (man, der Staat, muss eine Straftat nachweisen, sonst kann niemand verurteilt werden), aber auch nulla poena sine lege, keine Strafe ohne Gesetz. Die verhinderten Mörder im Film werden durch lebenslanges Einsperren in gläserne Röhren nicht nur für etwas bestraft, was sie zwar begehen wollten, aber nicht begangen haben. Sie werden damit auch einem Prinzip unterworfen, das von Rechtsprechung und Staats- und Strafrechtlern des „Dritten Reichs“ entwickelt wurde: dem sog. Willensstrafrecht, einem Gesinnungsstrafrecht, das im nationalsozialistischen Staat das Tatstrafrecht durch das sog. Täterstrafrecht ablöste. Entscheidend sei, so z.B. der damalige Justizminister Franz Gürtner, nicht die Tat eines Verbrechers als solche, sondern der kriminelle Wille. Wer einmal morde, morde immer wieder. Das war u.a. die Geburtsstunde der sog. „Sicherungsverwahrung“ und der „Schutzhaft“. Der Strafrechtler Georg Dahm schrieb z.B. 1935 in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ (S. 261), dass das nationalsozialistische Recht „die Verteidigungslinie vorverlegen will, nicht abwarten will, bis der Verbrecher seine Absicht verwirklicht“. Bestimmte Gewalttäter mussten nicht nur ihre Zeitstrafe absitzen, sondern wurden danach lebenslang in Sicherungsverwahrung oder sogar Strafhaft genommen. Genau dies geschieht mit den potentiellen Mördern in „Minority Report“.

Spielberg exemplifiziert diese Probleme exzellent – nicht mit Hilfe eines „Weltenretters“, eines Superman oder Batman, der durch einsame Heldentaten die Nation befreit. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der über sein eigenes Schicksal Bescheid zu wissen glaubt, sich dabei gründlich irrt und gezwungen ist, die Wahrheit selbst herauszufinden. Er ist nach Strich und Faden betrogen worden. Gerade diese Art der Inszenierung macht den Film äußerst spannend. Doch nicht nur das: Spielberg verdeutlicht, wie stark diejenigen, die als eifrige und völlig überzeugte Verfechter des Pre-Crime auftreten selbst nach dem Prinzip handeln: Der Zweck heiligt die Mittel. Sie wenden Mittel an, um ihr Projekt zu realisieren und auszuweiten, die dem proklamierten Ziel selbst widersprechen, ja es ad absurdum führen. Der „Minderheiten-Report“, das sind die Aufzeichnungen über abweichende Gedanken der Pre-Cogs in bestimmten Fällen, also wenn etwa zwei von ihnen ein Verbrechen voraussehen, der dritte aber nicht – diese Berichte wurden gelöscht: Es darf keinen Zweifel an der absoluten Zuverlässigkeit des Systems geben. Auch hierfür ist jedes Mittel recht.

Die Geschichte selbst ist einfach, klar und unmissverständlich gestrickt – jedoch nicht simpel. Die Aussage des Films ist derart klar, dass man an einer Diskussion über das Thema eigentlich nur vorbeikommt, wenn man seineDenkfähigkeit abschalten könnte oder die zugrundeliegenden Probleme – aus welchen Gründen auch immer – bagatellisiert.

Nicht nur die prognostizierten Verbrecher, auch die drei Pre-Cogs sind Opfer eines Sicherheitsfanatismus und -fatalismus, einer falsch verstandenen Verbrechensbekämpfung und vor allem dadurch auch einer riskanten sozialen Idee: Sie, drei Menschen immerhin, sollen zeit ihres Lebens in einem verschlossenen Raum in einer Flüssigkeit, so gut wie bewegungslos verbringen, abgetrennt von jeglichen sozialen Kontakten, beaufsichtigt durch einen „Babysitter“, der ihnen „schöne“ Worte zuflüstert, die an ihrer Situation als Gefangene des Systems nichts ändern. Individualität ist hier abgeschafft. Individualität ist in dieser nicht allzu fernen Zukunftsgesellschaft einem durch Technologie unterstützen Sicherheitsdenken geopfert, das nichts weiter als eine neue Form des Totalitarismus darstellt – gebilligt und begrüßt von einer Mehrheit der Bevölkerung, die sich selbst diesem System unterwirft.

Spielberg demonstriert schließlich eindrücklich, dass nicht technologische Neuerungen gesellschaftliche Entwicklungen prägen. An seinen Figuren – sei es nun Anderton oder Burgess oder Witwer – wird im Gegenteil einmal mehr exemplifiziert, dass sie es sind, die an entscheidenden Punkten die Wahl haben, den einen oder anderen Weg zu gehen. Wie schwierig das sein kann, wird in „Minority Report“ mehr als deutlich.

Wenn anfangs Tom Cruise, später Colin Farrell vor dem Bildschirm der Vorausahnungen der Pre-Cogs stehen, dann bewegen sie sich vor dieser Tafel des Grauens wie Dirigenten. Sie holen ein Bild nach dem anderen auf den Schirm, sie dirigieren eine Sinfonie des Schreckens der totalen Überwachung und des fatalen Glaubens an eine totale Sicherheit. Spielberg führt das System ad absurdum (ich will darüber natürlich nichts verraten). Aber man stelle sich vor, ein solches System würde auch auf andere Straftaten angewendet.

Ein Film gegen den Strich. Ein Film gegen die fanatische, riskante, ja teilweise lebensgefährliche Sicherheitsideologie, die nicht nur in den Vereinigten Staaten ihr Unwesen treibt, und eine Plädoyer für eine Gesellschaft, in der der einzelne im Zentrum steht und nicht „das System“, „der Staat“, „die Sicherheit“, „die Werte“ – oder hinter was sich Ideologien, Systeme, die an einer fixen Welt mit fixen Prinzipien festhalten wollen, noch zu verbergen glauben (können) – Ideologien, die auf die wirklichen Fragen keine wirklichen Antworten kennen und kennen können, die sich hinter der Macht verschanzen. Die Anleihen Spielbergs bei Kubrick, Fritz Langs „Metropolis“ und auch Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ sind unübersehbar, aber er kleistert „Minority Report“ damit nicht zu. Es sind „sanfte“ Anleihen, mit denen Spielberg sich in eine Tradition stellt – und das ist gut so. Eine Tradition, die die „filmischen“ Finger in die tiefen Wunden unserer Zivilisation hält.

(1) Vgl. dazu z.B. Prof. Dr. Gerhard Wolf: Befreiung des Strafrechts vom nationalsozialistischen Denken

Minority Report
(Minority Report)
USA 2002, 145 Minuten
Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Scott Frank, nach einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick
Musik: John Williams, Johann Sebastian Bach, Pyotr Ilyich Tchaikovsky
Kamera: Janusz Kaminski
Schnitt: Michael Kahn
Spezialeffekte: Michael Lantieri
Hauptdarsteller: Tom Cruise (Detective John Anderton), Colin Farrell (Detective Danny Witwer), Samantha Morton (Agatha), Max von Sydow (Director Lamar Burgess), Lois Smith (Dr. Iris Hineman), Peter Storemare (Dr. Solomon), Tim Blake Nelson (Gideon), Steve Harris (Jad), Kathryn Morris (Lara Anderton), Mike Binder (Leo Crow), Daniel London (Wally), Neal McDonough (Officer Gordon Fletcher), Jessica Capshaw (Evanna), Patrick Kilpatrick (Officer Jeff Knott), Jessica Harper (Anne Lively) Ashley Crow (Sarah Marks), Arye Gross (Howard Marks), Anna Maria Horsford (Casey), Sarah Simmons (Lamar Burgess Sekretärin)

Ulrich Behrens

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