Forschungsreisende der Liebe

Der mittlerweile mit seiner Familie aus dem Iran nach Frankreich emigrierte Mohsen Makhmalbaf ist so produktiv wie kaum ein zweiter Regisseur seines Heimatlandes. Nicht nur sein eigener Output ist seit Beginn der 1980er Jahre ununterbrochen, auch seine Frau und seine Kinder, die ebenfalls Filme drehen, produziert der 49-Jährige in seinem „Makhmalbaf Film House“. Sein neuestes Werk in Eigenregie, „The Scream of the Ants“ war als Weltpremiere auf dem Münchner Filmfest zu sehen.

schreiderameisen_dvd-d-1.jpgErzählt wird die Geschichte des vom Leben gelangweilten iranischen Ehepaares (gespielt von Mamhoud Chokrollahi und Mahnour Shadzi), das sich auf eine Hochzeitsreise nach Indien begibt. Der Mann, ein ehemaliger Kommunist und mittlerweile agnostischer Existenzialist gerät während der Reise mit seiner Frau, die zwar ihren Glauben an Gott, nicht aber ihren Glauben selbst verloren hat, immer wieder in Streit – über emotionale, über philosophische, oft über politische Themen. Dennoch verbindet beide eine tiefe, romantische, ja beinahe lyrische Liebe, die sie sich in Worten immer wieder bestätigen. Die Reise soll die beiden zum „Complete Man“ führen, einem indischen Weisen, der ihnen den Weg in die gemeinsame Zukunft deuten soll. Nach etlichen kleinen amüsanten und aufregenden Abenteuern erreichen sie ihr Ziel, an dem sie mehr und mehr entdecken, dass es eigentlich der Weg selbst war, den sie gesucht haben. Nach ihrem Treffen mit dem Weisen begeben sie sich in eine Stadt am Ganges, wo sie das Leben und Leiden der Menschen, die Schönheit und Hässlichkeit der Armut erkunden. Mit großem Erstaunen finden beide schließlich eine spirituelle Beziehung zueinander, zu der die Reise nur die Inspiration geliefert hat.

schreiderameisen_004-1.jpgMakhmalbafs Film ist Schönheit in Bildern. Der Blick einerseits auf das Miteinander des reisenden Paares, andererseits auf die Stationen ihrer Reise ist stets „wunderbar“ im Wortsinne. Das, was touristisch als schön wirken soll, stößt ab, die Schönheit selbst wird im hässlichen, alltäglichen, ja selbst im Leiden und der Trauer entdeckt. Es sind diese authentischen Gefühle, die die beiden Protagonisten suchen, die ihnen in ihrer zwar überaus feinfühligen aber doch armen Beziehung zueinander fehlen. In ihren Begegnungen entdecken sie, dass sie das Gefundene gar nicht wirklich gesucht haben: in jenem falschen Wundertäter (einem entführten Greis, der auf den Bahnschienen lebt und dort auf „wundersame Weise“ den Zug zum stoppen bringt und von dem schon in Makhmalbafs “The Cyclist” die Rede war), einem falschen „Complete Man“, der ebenso komplett wie jeder andere Mann ist und das auch offen zugibt, in der Begegnung mit einem Taxifahrer, dem die Heimkehr einer verirrten Fliege wichtiger als die Beförderung seiner Gäste ist und schließlich im Zusammentreffen mit einem nach Indien ausgewanderten Deutschen (Karl Maass), der dort den Seelenfrieden gesucht, jedoch nur eine „Theologie der Scheiße“ gefunden hat. Die Differenz zwischen Schönheit und Hässlichkeit wird in „Scream of the Ants“ also zu Gunsten einer ganzheitlichen Sichtweise auf die Welt, das Leben und den subtilen Widerspruch von Glauben und Hoffen aufgehoben. Die existenzialistischen Positionen des Ehemannes werden dabei als genauso einseitig entlarvt wie der mystisch-verklärte Glaube ohne Gott seiner Frau.

schreiderameisen_013-1.jpgMakhmalbafs Film siedelt sich so zwischen Spiel- und Essayfilm mit dokumentarischen Sentenzen an. Die Forschungsreise der beiden Protagonisten führt sie zu Orten und Menschen, die auch dem Zuschauer einiges mitzuteilen haben, was er sich vielleicht immer schon über die Leitthemen des Films gefragt haben mag. In unvergleichlich leichtem Stil mischt der Regisseur dabei ernste Themen mit humorigen Anekdoten und deutet dabei seine eigene Stellung zu Philosophie und Religion als die Synthese des im Film verhandelten an. Es ist wohl dieser kritische Glaube und die grundsätzliche Offenheit für das Andere, die Makhmalbaf in seiner iranischen Heimat immer wieder in Konflikt mit der Zensur geraten ließ. Seine intellektuelle Freizügigkeit offenbart sich auch in den freizügigen Bildern des Films. Damit sind nicht nur die Huldigungen an die Schönheit seiner Protagonistinnen gemeint, sondern auch die Unbefangenheit mit der soziale Widersprüche, die für den Iran genauso gelten wie für das gezeigte Indien ins Bild gerückt werden. „Scream of the Ants“ ist auch hierin ein bezaubernd ehrlicher Film für den zu hoffen steht, dass er ein möglichst breites Publikum erreichen wird.

Dieser Text ist zuerst erschienen in „Der Schnitt“, Ausgabe 44 (4/2006), S. 76.

Schrei der Ameisen
(Scream of the Ants, Indien 2006)
Regie, Buch & Schnitt: Mohsen Makhmalbaf; Musik: Craig Pruess; Kamera: Bakhshor
Darsteller: Mamhoud Chokrollahi, Mahnour Shadzi, Karl Maass, Tenzin Chogyal, Savitha Iyer u. a.
Länge: 85 Minuten
Verleih: Kinowelt/Arthaus

Die DVD von Kinowelt/Arthaus

Nachdem Ascot Elite vor fünf Jahren als erstes deutsches Label einen Makhmalbaf-Film („Die Reise nach Kandahar„) veröffentlicht hat, zieht Kinowelt nun mit dem jüngsten Werk des iranischen Regisseurs nach. Auch wenn zunächst nicht geplant ist „Schrei der Ameisen“ weitere Filme Makhmalbafs folgen zu lassen, wäre zu hoffen, dass das sehr reichhaltige Werk dem deutschen Zuschauer zugänglich gemacht wird. „Schrei der Ameisen“ liegt in einer sehr gut bearbeiteten Fassung vor. Die Originalversion, deren Mehrsprachigkeit durch Synchronisation ohnehin sinnentstellt worden wäre, ist deutsch untertitelt. Als Extras finden sich Filmografien und Biografien auf der DVD (hier wäre die Chance gewesen – ähnlich wie bei „Reise nach Kandahar“ – Kurzfilme aus dem Ouevre Makhmalbafs hinzuzufügen).

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Bild: 1,85:1 (anamorph)
Sprachen/Ton: Englisch, Persisch, Französisch, Hindi (Stereo Dolby Digital)
Untertitel: Deutsch
Extras: Making of, Fotogalerie, Biografie Mohsen Makhmalbaf, Trailer
Veröffentlichung: 08.06.2007
FSK: ab 12 Jahren
Preis: 19,99 Euro

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