Fisch und Fleisch in einem

Die Nachricht des Unfalltodes ihrer Familie auf einer Geschäftsreise in Rumänien wirft die junge Biologie-Studentin Lara (Friederike Kempter) völlig aus der Bahn. Ihr Freund Nicki versucht es mit Schocktherapie: er fährt sie kurzerhand (mit zwei Studienfreunden im Schlepptau) nach Bukarest, damit sie Abschied von den Leichnamen – insbesondere von ihrer geliebten kleinen Schwester – nehmen kann.

„Du siehst und dann gehst du!“, fordert die alte Krankenschwester im Hospital. Doch Lara wird nicht einfach in den Schlummer eines sorglosen Studentinnendaseins in Deutschland zurückkehren können: Die Blaubartsche Tür lässt sich nicht einfach wieder schließen, die Rätsel, die der Tod der Familie aufgibt, fordern Antworten. Das Trauma führt Lara geradewegs in ein nach den Gesetzen der Traumlogik funktionierendes Schattenreich, das nicht erst seit Hostel in Horrorfilmen bevorzugt in Osteuropa angesiedelt wird (Stichwort: Transsilvanien).

Die sich nun entfaltende Geschichte steht den kruden Plots des psychotronischen Kinos (von A wie Attack of the Fifty Foot Woman bis Z wie Zombie High – The School That Ate My Brain) in nichts nach: Lara begegnet der verführerischen Motorradbraut Nikita (Ioana Iacob), die sie über die verbrecherischen Machenschaften ihres Vaters aufklärt. Dieser hatte in Deutschland ein gentechnisches Verfahren entwickelt, billiges Rindfleisch herzustellen, das sich leider als ungenießbar erwies. Unter dem Deckmäntelchen humanitärer Hilfe verkaufte er das Genfleisch nach Rumänien, wo man es an arme Straßenkinder verfütterte. Übermäßiger Konsum hatte jedoch zur Folge, dass die Kinder zu mordlustigen, missgestalteten Bestien mutierten, die sich in die Wälder schlugen und fortan das Bukarester Hinterland unsicher machten. Just diese Kreaturen fallen dann auch über Lara und ihre Gefährten her.

Dieser Öko-Horror-Plot – angereichert noch mit politischen Implikationen (Ausbeutung der armen Schwellenländer durch die reichen Industrienationen, BSE- und Gammelfleisch-Skandal, tec.) – wäre für sich genommen ziemlich altbacken, auch wenn das Thema nature-strikes-back im Zuge der Klimadebatte wahrer denn je erscheint (ähnlich viele Katastrophen- und Weltuntergangsszenarien gab es in den Siebzigern als „Die Grenzen des Wachstums“ den westlichen Fortschrittsglauben erschütterten).

Allerdings ist Bukarest Fleisch nicht nur politisch ambitionierter Trash (ohne in schlingensiefsches Gekreische und Geraune zu verfallen), sondern vor allem intelligentes Queer Cinema. Sicherlich ist der Gender-Topos sowieso eine genrekonstituierende Größe der Phantastik und in einer Vielzahl von Horrorfilmen zumindest latent präsent (man denke an Bride of Frankenstein (1935) von James Whale, ein Vorläufer der Rocky Horror Picture Show), doch macht sich seit einigen Jahren ein Trend bemerkbar, sich unmissverständlich zur queer-Thematik zu bekennen, z.B. Bruce LaBruces Otto; or, Up With Dead People (der auf der Berlinale 2008 gezeigt wurde, während Bukarest Fleisch abgelehnt wurde), Alexandre Ajas High Tension, Lucky McKees May und Sick Girl, Hüter der Grenze von Maja Weiss, Eli Roths Hostel II, Neil Marshalls The Descent, Quentin Tarantinos Death Proof usw. Vor allem erscheint das Queere nun weniger als Attribut des Monsters, sondern manifestiert sich im Helden bzw. in der Heldin.

Diese queere Lesart lässt den Plot von Bukarest Fleisch als Emanzipationsprozess begreifen: Die Nachricht vom Tod ihrer Familie (dem Ende der unhinterfragten patriarchalen Ordnung) stößt Lara in einen Identitätsfindungsprozess, der durch die Begegnung mit der schönen Nikita einen Richtungsimpuls (weg von der Reproduktion heteronormativer Lebensführung) erhält. Zur Identitätssuche begibt sie sich (bzw. wird durch ihren „Mentor“ Nicki in dieses Reich verfrachtet) in ein düsteres „Wunderland“, in dem ihr der Weg durch ihre kleine Schwester „Alice“, lesbar als Laras kindlich-naives Alter Ego, das durch das vom Vater geschaffene Genfleisch zum monströsen Widersacher mutiert ist, verstellt wird. In dieser Welt (Rumänien) gelten die Gesetze der gewohnten Welt (Deutschland) nicht mehr. Hier ist – nach dem symbolischen Akt der Tötung ihres im Rahmen klassischer (heteronormativer) Erzählmuster antizipierten Partners (Nicki), auch der Weg offen zur gleichgeschlechtlichen Liebe. (Diese Tötung erhält im Rahmen der Geschichte ihre Legitimation auch durch die äußeren Umstände (Nicki erbittet den Tötung als Gnadenakt))

Um Laras Wandlung als irreversibel zu markieren, ist es – wie so häufig – notwendig, den Mentor sterben zu lassen (wie Obi Wan in Star Wars und Jack in Titanic). Das trifft nicht nur auf Nicki zu, sondern vor allem auch auf Nikita, die ja nicht nur Laras love interest ist, sondern vor allem als segensreiche Mentorin Lara durch die neue Welt führt. Ihr durch Lara versehentlich herbeigeführter Tod ermöglicht eigentlich erst die Rückkehr in die gewohnte Welt: Die in Laras Armen sterbende Nikita fragt noch: „Gefällt dir mein Land?“ – „Ich hab ja kaum was gesehen.“ – „Du musst es dir anschauen. Es ist wunderschön…“

Dass Lara dieses Coming Out mit in die gewohnte Welt hinüberretten kann, wird deutlich, als sie ihre eigene durch das Genfleisch verursachte Mutation mit den Worten kommentiert: „Es ist alles gut – wir sind in Deutschland.“ (Ebenso wunderbar ironisch wie die in Anbetracht der abstrusen Storyline dem Film vorangestellte Authentifizierungsformel „Dieser Film beruht auf tatsächlichen Ereignissen“)

Andy Fetscher (*1980, Kamera- und Regiestudent an der Ludwigsburger Filmakademie Baden-Württemberg, der sich für Drehbuch, Regie und Kamera verantwortlich zeichnet) gelingt mit seinem Diplomfilm Bukarest Fleisch (Remake eines 30-minütigen SW-Films Bukarest Fisch, der 2003 in Ludwigsburg unter der Regie von Andreas Schmid entstand) ein wunderbar verrückter, subversiver, politisch engagierter, aber dennoch unterhaltsamer und doch vielschichtiger, zwischen extremer Gewalt und ätherischer Verträumtheit changierender low budget-Horrorfilm, der sicherlich für jene, die intelligenten Indie-Horror aus deutschen Landen seit Jörg Buttgereits Schramm (das war 1993!) schmerzlich missen mussten, ein Grund zur Freude sein dürfte.

Wenn auch nicht jede Dialogzeile überzeugt (weniger bedeutungsschwanger wäre manchmal mehr gewesen), manche ästhetische Spielerei den Erzählfluss unterbricht (z.B. wenn Lara übertrieben pathetisch in Zeitlupe aus dem Bukarester Hospital ins lichtdurchflutete Freie rennt…) und manch erzählerischer Bruch (in der finalen Konfrontation baut sich Lara in MacGyver-Manier in Sekundenbruchteilen aus einem Kondom, einer abgebrochenen Glasflasche, einem Holzstock, einem Schnürsenkel und einem Taschenmesser eine Schusswaffe – als Zuschauer ist man fassungslos…: Ist das jetzt Ironie oder unfreiwillige Komik?), so schmälert das doch nicht den positiven Gesamteindruck, den dieser Film hinterlässt. Die Schauspieler können durchweg überzeugen, die Kameraarbeit (häufig unruhige Handkamera, die uns nah an die Protagonisten heranbringt) schafft im Zusammenspiel mit dem tollen Schnitt (der zeigt, dass aufwendige Maskeneffekte nicht unbedingt nötig zur wirkungsvollen Darstellung von Gewalt sind, wenn man nur geschickt montiert) und einem ausgefeilten Sounddesign (mit herrlich übertriebenen Geräuschen – Fulci lässt grüßen) eine traumähnliche Atmosphäre, und nicht zuletzt der schmissige Soundtrack mit Blackmail, Alev und Undertow lässt nur ein Urteil zu: Bukarest Fleisch ist ein echter Leckerbissen!

Bukarest Fleisch
(Deutschland 2007)
Buch, Regie, Kamera: Andy Fetscher, Schnitt: Carsten Eder, Szenenbild: Karina Lange, Steffen Staudenmaier, Musik: Steven Schwalbe, Sounddesign: Stefan Busch
Darsteller: Friederike Kempter, Ioana Iacob, Andreas Thiele, Daniela Schulz, Philip Hagmann, Manoel Maurer, Monika M. Ullemeyer
Länge: 87 Min
Verleih: Legend Home Entertainment

Zur DVD von Legend Home Entertainment:

Legend veröffentlicht den Film ab dem 16.4. als Verleih-, ab dem 19.5. dann auch mit identischer Ausstattung als Kauf-DVD in einer „exklusiven“ Fleischimitat-Styroporverpackung. Neben nicht verwendeter Szenen und einem Originaltrailer findet sich auf der DVD ein gutgelaunter (und stellenweise sehr witziger!) Audiokommentar von Andy Fetscher und den Hauptdarstellern Friederike Kempter (Lara) und Andreas Thiele (Nicki), die (schnapstrinkend!) eher über Anekdoten während des Drehs als über inhaltliche Aspekte des Films schwadronieren.

Zur Ausstattung der DVD:

Format: Dolby, PAL, Surround Sound
Sprache: Deutsch (Dolby Digital 5.1)
Region: Region 2
Bildseitenformat: 16:9
FSK: Freigegeben ab 18 Jahren
Studio: Ufa/DVD
DVD-Erscheinungstermin: 19. Mai 2008
Spieldauer: 87 Minuten
Specials: Audiokommentar, Originaltrailer, nicht verwendete Szenen

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Autor: Jörg Hackfurth

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