Der Bruderstreit als Erzählmotiv ist so alt wie die Erzählung selbst. Und dazu ein Element jeder anständigen Familientragödie. In seinem jüngst erschienenen Werk Tödliche Entscheidung inszeniert Sidney Lumet allerlei Prinzenränke inmitten brodelnder Sippschaft. Ihm gleich tut es nun Woody Allen mit Cassandras Traum. Während Lumet für seinen Film die moderne Form wählt, mit lautem Schnitt-Spektakel und wenig Nachhall, kommt Allens Version im wohltuend klassischen Gewand daher: Griechische Stoffe, englischer Schnitt und ein wenig französisches Odeur.
Im vertrauten Wechsel von Lust- und Trauerspiel erleben wir nun also nach Match Point erneut eine Geschichte von der tödlichen Sehnsucht nach sozialem Aufstieg. Dass Allen in Cassandras Traum die Fallstricke wieder als Familiengeflecht anordnet, ist vor allem seiner Altersliebschaft London und dem Einfluss des nahen Kontinents zuzuschreiben. Hier sind die familiären Zerfallsprozesse noch voll im Gang. Hier blüht zusehends ein Individualismus nach amerikanischem Vorbild – wider den globalen Minderwertigkeitskomplex. Dass London als Finanzkapitale mit New York längst gleichgezogen hat, ist kein Zufall. Nicht zufällig wiederholt sich hier auch der neurotische Rhythmus des boomenden Big Apple, wie wir ihn schon aus Manhattan kennen.
Allerdings ist die virile Hektik, die joviale Erregtheit des typischen Allen-Tons ein wenig zur Ruhe gekommen, seit es den Regisseur über den großen Teich gezogen hat. Es scheint, als wolle er noch mal den Stammbaum seines Werks unter die Lupe nehmen, das ja in seiner Substanz schon immer von einem großen abendländisch-jüdischen Einfluss zehrt. Weil sich das Reflektieren bei Allen zudem gerne am Über-Ich reibt, geizt er auch in Cassandras Traum keineswegs mit den Zutaten des klassischen Dramas und der Psychoanalyse. Folgerichtig darf die dominante Vaterfigur nicht fehlen, an der sich der Bruderzwist erst richtig entzündet.
Nicht der Vater, sondern Onkel Howard (Tom Wilkenson) hat diese Rolle in Vertretung inne, denn im Gegensatz zum Rest der Familie hat er es zu etwas gebracht. Sein Wort zählt. Die Brüder Ian (Ewan McGregor) und Terry (Colin Farrell) entpuppen sich dagegen als fulminante Hasardeure. Während Ian sich auf einen riskanten Immobiliendeal einlässt, hat Terry beim Zocken schon alles verspielt. Für beide ist der reiche Onkel die letzte Rettung, also bitten sie ihn um Geld. Überraschend lässt der sich auf den Deal auch ein, seine Konditionen sind allerdings alles andere als verwandtschaftlich. Howard will keinen Leih-, sondern einen Tauschhandel, bei dem die Jungs einen äußerst miserablen Kurs akzeptieren müssen: Sie sollen im Gegenzug einen Geschäftspartner ihres Onkels aus dem Weg räumen.
Es gehört zu den stärksten Momenten des Films, wie er seine Protagonisten an dem Auftragsmord scheitern lässt, wie sie sich winden, sich stark reden und mit jedem Zaudern mehr in die Tat verstricken. Das ist quälend und komisch zugleich. Wie Ian und Terry ihrem Abgrund entgegen torkeln ähneln sie Tom Sawyer und Huckleberry Finn viel mehr als Bonnie und Clyde. Entschließt sich Ian aber bald dazu, den moralischen Konflikt in eine zynische Kosten-Nutzen-Rechnung umzuwandeln, so verzweifelt Terry immer heftiger an der ausweglosen Situation. Er ist, ganz der Vater, viel zu anständig um kriminell zu sein – und zu schwach, um das Ruder noch herumzureißen.
An diesem Punkt kommen die Frauen ins Spiel. Sie machen das Drama der Brüder erst so richtig katastrophenfest, denn sie verkörpern jenes sexuelle Dilemma, das das männliche Personal des Allen-Kosmos stets zur Unzeit befällt. Natürlich, der Ödipuskomlex. Insbesondere Ians Freundin Angela (Hayley Atwell), eine Theaterschauspielerin, verkörpert dieses Dilemma als ebenso hinreißende wie flatterhafte Sirene. Dass sie zum Schicksalsengel wird ist aber nicht ihre Schuld, schließlich ist es Ian, der Angela um jeden Preis an sich binden will. Obwohl er ihr, die aus gutem Hause stammt, eigentlich gar nicht das bieten kann, wonach sie sucht. Es ist dieser ökonomische, sehr britische Klassenkonflikt, der Ians unheilvolles Werben zusätzlich anheizt. „Meine Tochter ist sehr anspruchsvoll, aber sie sagte mir auch, dass sie ein Mann mit Zukunft sind“, rumort ihm Angelas Vater ins Ohr. Unverhohlener kann man dem Kandidaten kaum die Rechnung vorlegen. Und der ist bereit zu zahlen.
Am Ende ist für die Brüder selbst auf der „Cassandra´s Dream“ die Welt nicht mehr in Ordnung. Dabei sollte ihnen das kleine Segelboot doch Glück bringen. Leider interessieren sich die beiden nicht für die alten Griechen, sonst hätten sie die Jolle vermutlich anders getauft. Vielleicht hätte Ian sich dann auch von Angela ferngehalten. Die spielt am liebsten nämlich eine andere Gestalt aus der Odyssee, und zwar eine, die den Brüdern nicht gefallen dürfte: Klytämnestra. Bekanntlich verhält die sich zu Kassandra ebenso nachhaltig wie Kain zu Abel. Kein Wunder also, dass der Traum den Hafen nie verlassen wird.
Cassandras Traum
(Cassandras Dream, USA, 2008)
Regie und Drehbuch: Woody Allen; Kamera: Vilmos Zsigmond; Schnitt: Jill Taylor; Musik: Philip Glass
Darsteller: Ewan Mc Gregor, Colin Farrell, Tom Wilkinson, Sally Hawkins, Hayley Atwell u. a.
Verleih: Constantin Film
Länge: 108 min
Kinostart: 5. Juni