Ein paar Leichen

Ulrich P. Bruckner: Für ein paar Leichen mehr. Der Italowestern von seinen Anfängen bis heute, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2002

Der Italowestern gehört offenbar selbst schon seit langem zu jenen Leichen, die er in seinen reißerischen Filmtiteln oft beschwört. Verging zu seinen Hochzeiten kaum eine Woche ohne einen, manchmal auch zwei oder drei neue Western made in Italy, erfährt er in der schnelllebigen italienischen Filmproduktion mittlerweile nur mehr im Dekadenturnus Gnade. Und dennoch: Die Faszinationskraft der ganz vordergründig auf Physis hin inszenierten und moralisch oft faszinierend sorglosen Filme – das heißt: zumindest die der besseren – ist bis heute ungebrochen. Kein Interview mit Quentin Tarantino über Kill Bill Vol.01 (USA 2003) in diesen Tagen, in dem nicht Leones Epen die Referenz erwiesen wird. Eine jüngste, sehr sorgfältig produzierte DVD-Veröffentlichung von Spiel mir das Lied vom Tod (Sergio Leone, Italien 1968) stellte jüngst ein kleines Medienereignis für sich dar, inklusive luxuriöser limitierter Edition mit einer Mundharmonika als Dreingabe und einmaligen Ehrenvorführungen in ausgesuchten Kinos im ganzen Land. In Internetforen vernetzen sich die zahlreichen Fans und schanzen sich gegenseitig heißbegehrte Sendetermine im Nachtprogramm oder weltweite DVD-Veröffentlichungstermine zu.

Eine solche Vernetzung tut Not, denn der Korpus des Subgenres ist ein kaum überschaubarer. Da die italienische Filmproduktion in ihren Glanzzeiten sich wie kaum eine zweite nach Moden und Trends richtete, die bei kostengünstiger Produktion kommerziell ergiebig ausgeschlachtet werden konnten, herrschte in den Kinos seinerzeit eine wahre Schwemme von immer neuen Variationen und Kombinationen der wenigen zugrunde liegenden Erzählungen und Motive. Erschwerend hinzu kam das nicht selten recht zweifelhafte Verhalten hiesiger Filmverleiher, die die Filme gerne sinnverfremdend synchronisieren ließen, willfährige Schnittversionen erstellten oder einen an sich einzelnen Film nonchalant einem gerade beliebtes Serial hintan stellten: An sich waren die meisten Djangos, Ringos oder Sartanas gar keine solchen.

Eine ungefähre Ahnung des Korpusumfangs vermittelt alleine schon die physische Beschaffenheit von Ulrich P. Bruckners Versuch, die Datenlage des Subgenres detailliert zu erfassen und es überblickend darzustellen: „Für ein paar Leichen mehr. Der Italowestern von seinen Anfängen bis heute“ liegt beeindruckend schwer in der Hand und beansprucht für sich einiges an Regalfläche. Doch auch der Inhalt kann sich sehen lassen: Nach einem sehr persönlichen Überblick über das Genre und einer knappen wie schlüssigen Zusammenstellung der gängigsten Motive, aus denen sich der Italowestern immer wieder baukastenartig zusammensetzt, betrachtet Bruckner die einzelnen Filmjahre und ermöglicht dergestalt eine historische Perspektive auf das Phänomen. Nach der Chronologie der Starttermine werden zunächst alle in Deutschland angelaufenen Italowestern unter Angabe des Originaltitels – eine wichtige Orientierungshilfe – aufgelistet, um sich im folgenden dann den jeweils „wichtigsten“ Filmen detailliert zuzuwenden. Diese Auswahl hat gewiss ökonomische Gründe: Eine vergleichbare Vorstellung aller Filme würde den Umfang der Publikation bei weitem sprengen. Da sich der Italowestern aus einer Handvoll motivischer und ästhetischer Vorreiter und weitaus zahlreicheren ungenierten Derrivaten zusammensetzt und mit 100 vorgestellten Filmen das Spektrum der Beobachtung zudem sehr großzügig ausfällt, hält sich der Kanoneffekt angenehm in Grenzen. Dafür lässt man sich pro ausgewähltem Film angemessen Platz: Neben den Credits findet sich eine detaillierte Inhaltsangabe, gefolgt von Hintergrundinformationen und filmkritikähnlichen Einschätzungen wie auch einer auszugsweisen Zitation zeitgenössischer Kritiken aus dem Filmdienst und anderen Publikationen. Hochwertige wie seltene Bildstils, Plakat- und Aushangrepros vermitteln einen guten Eindruck der Filme und ihrer oft sympathisch reißerischen Vermarktung.

Dieser Überblick beansprucht gut die Hälfte des Buchumfangs und macht somit den Kernteil des Buches aus. Jedoch wurden – Bruckner ist seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Sammler von allem, was mit dem Italowestern zu tun hat – noch zahlreiche, weitere Quellen ausgewertet und aufgearbeitet, denn der Italowestern ist, wie nahezu jedes B-Movie-Genre, auch schmückendes Beiwerk, Anekdote am Rande und Archäologie: Im lexikalisch orientierten Bereich stellt Bruckner Regisseure, Kameramänner, Drehbuchautoren und – besonders wichtig, deshalb etwas ausführlicher – Komponisten und Musiker vor und erstellt anhand einer Übersicht der Drehorte eine Art Landkarte des Italowesterns. Dem folgt eine komplette lexikalische Aufarbeitung des gesamten Korpus jenseits deutscher Kinoauswertungen mit allen wichtigen Angaben und kurzer Inhaltsangabe, wie obendrein auch eine überblicksartige Skizzierung des Euro-Westerns jenseits von Cinécitta. Für eigene Forschungsarbeiten besonders engagierter Fans stellt Bruckner zudem mittels einer Liste aller Pseudonyme italienischer Filmschaffender ein nützliches Werkzeug zur Seite: Aus Gründen internationaler Vermarktbarkeit arbeiteten zahlreiche Regisseure und Schauspieler unter englischem Tarnnamen, was Recherchen in der Vergangenheit oft erschwerte. Interviews mit ausgewählten Regisseuren, Schauspielern und Komponisten gewähren zudem einen spannenden anekdotenreichen Blick hinter die Kulissen.

„Als ich Anfang der Siebziger Jahre im österreichischen Fernsehen den ersten Leone-Western […] sah, war ich von der Machart dieser vollkommen anderen Art von Western völlig verzaubert. […] Man konnte seinen Augen kaum trauen.“, mit diesen Worten beginnt Bruckner seine so liebevolle wie akribische Aufarbeitung. Diese tiefe Verbundenheit zu seinem Gegenstand merkt man dem Buch auf jeder Seite an. Ein wahrhaftiges Liebhaberwerk wurde da geschaffen, ein Glücksfall der Buchpublikation, die oft genug aus ökonomischen und anderen Erwägungen zu Kompromissen gezwungen ist. Hiervon indes keine Spur, das Italowesternlexikon, wie es längst schon unter Fans des Subgenres genannt wird, ist ein Projekt aus reiner Leidenschaft, ohne aber – und dies ist wichtig zu erwähnen – in bloße Schwärmerei zu verfallen. Bruckner geht exakt vor und erweist somit der Filmgeschichtsschreibung einen großen Dienst, indem er – unmöglich angesichts der Fülle an Informationen natürlich, dies am Rande zu verifizieren, indes, man ist gewillt, dem Band blind zu vertrauen – die Koordinaten eines bislang kaum überblickbaren Genres noch bis ins Detail erschließt und kompiliert. Einmal mehr hat sich die jahrzehntelange Leidenschaft eines Sammlers und privaten Archivars als echter Segen für die Forschung erwiesen, den kanonisierende Institutionen und finanziell marginalisierte Archive vermutlich kaum bewerkstelligen hätten können. Für tiefergehende Forschungsarbeiten am Italowestern wird an dieser Publikation kein Weg vorbeiführen.

Bleibt allein die nach wie vor kritische Editionslage: Nur wenige Produktionen konnten sich bislang überhaupt einer Auswertung auf DVD erfreuen. Wie also den durch die Lektüre entstandenen Heißhunger stillen? Auch hier ist ein klein wenig Licht am Ende des Tunnels zu erkennen: Ulrich P. Bruckner steht der noch jungen Koch Media, einem Label, das sich vor allem dem nostalgischen Genrefilm verpflichtet fühlt, als beaufsichtigender Leiter voran. Und wie könnte es auch anders sein: Die ersten Italowestern, darunter teils äußerst rare Filme, sind bereits angekündigt. Was für seine prominentesten Antihelden verlässlich gilt, scheint auch für den Italowestern selbst Geltung zu beanspruchen: Er ist einfach nicht totzukriegen, er kehrt immer wieder zurück. Dies soll uns nur recht sein.

Ulrich P. Bruckner: Für ein paar Leichen mehr. Der Italowestern von seinen Anfängen bis heute.
Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2002
520 Seiten, 600 Abbildungen, Hardcover
34,90 Euro, ISBN 3896024167

Thomas Groh

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.