Der Film lebt nicht vom Bild allein
(und das Buch nicht von der Schrift allein)

Nicht nur durch Literaturadaptionen wird cinestischen Puristen immer wieder schmerzlich die Literatur als essenzieller Bestandteil des Films in Erinnerung gebracht. Etliche Filme, vor allem des europäischen Autorenfilms der 70er Jahre, „handeln“ im Zentrum von den Geschichten ihrer Protagonisten. Selten kommt es dabei vor, dass das Narrativ einen solchen Vorrang innerhalb des Films erhält, dass mise-en-scene und Montage dadurch völlig in den Hintergrund geraten.


Mein Essen mit André, den Louis Malle 1982 inszenierte, ist einer dieser Filme. Die Handlung des Films reduziert sich auf das Zwiegespräch der beiden Freunde Wallace Shawn und André Gregory, das beide vor, während und nach einem gemeinsamen Essen miteinander führen. Auf intensive Weise schafft es Malle seine Zuschauer in den Bann der Unterhaltung zu führen, ja, sie sogar in gewissem Sinne daran teilhaben zu lassen. Denn es ist die Prozesshaftigkeit des Gesprächs, der Eindruck, dass es kein vorgefertigtes Skript ist, dass die beiden im Dialog abarbeiten. Die unterschiedlichen Positionen Andrés (des romantischen Mystikers) und Wallys (des mit beiden Beinen in der Realität stehenden Pragmatikers) bieten dem Zuschauer tiefe Einblicke in Kunst, Moral und das Leben im Amerika der 60er und 70er Jahre.

Und trotz der Literabilität seines Stoffes hat es Malle geschafft, dass sich das Bild der beiden Gesprächspartner, das Ambiente des Restaurants und sogar der Tonfall ihrer Stimmen nach dem ersten Sehen des Films ins Gedächtnis des Zuschauers einbrennt. Damit blüht das cineastische Moment dieses Films auf. Verifizieren lässt sich dies bei dem nun im Alexander-Verlag erschienen Drehbuch zum Film, das nicht mehr ist als die Widergabe des Dialogs. Beim Lesen tauchen unwillkürlich wieder die Bilder des Films im Kopf des Lesers auf (so er den Film denn kennt). Doch neben dieser visuellen Qualität des Buches liefert der Text die Möglichkeit, die einzelnen Argumente des Gesprächs noch einmal Revue passieren zu lassen.

Wallace Shawn & André Gregory
Mein Essen mit André
Aus dem Amerikanischen von Nicolaus Hansen
Berlin: Alexander Verlag, 2003-10-24
12,50 Euro

Stefan Höltgen

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