Around the World in 14 Films – Curling

Um die Erziehung ihrer Kinder besorgt, wittern viele Eltern Gefahr, wenn die Außenwelt – der Staat, die Schule, die Medien – Einfluss auf die jungen Sprösslinge zu nehmen beginnt. Und doch droht so manchem Kind die größte Gefahr von Seiten der Eltern selbst. Schließlich hat keine andere Instanz so viele Möglichkeiten, auf das Leben eines Kindes einzuwirken, es tief und unwiderruflich zu prägen. Vor allem aber schlagen die berechtigte Sorge und der liebevolle Schutzinstinkt der Eltern mitunter in Übervorsicht, Realitätsflucht und Isolationismus um. Willkommen im Leben von Julyvonne – einem zwölfjährigen Mädchen, das allein mit seinem Vater in den einsamen und verschneiten Weiten Québecs lebt. Julyvonne (Philomène Bilodeau) geht nicht zur Schule, verlässt kaum einmal das Haus, hat keine Freunde, kein Internet, keinen Fernseher. Manchmal liegt Nordkorea mitten in Kanada.
Ihr eigenbrötlerisch-soziophober Vater (Philomènes tatsächlicher Vater Emmanuel Bilodeau) meint all das gut – er will sie behüten vor dem Bösen in der Welt. Und doch muss Julyvonne irgendwann einmal hinaus in die feindliche Realität, sich von der ebenso behütenden wie einengenden Omnipräsenz ihres Vaters befreien. Sie muss den Stein, der sich im Zentrum ihres Lebens befindet, fort stoßen – Takeout heißt das beim Curling.

Denis Côté erzählt diese Emanzipationsgeschichte sehr ruhig – vielleicht zu ruhig. Das Drama der geistig-seelischen Verstümmelung eines Kindes vollzieht sich hier ganz undramatisch und verliert sich noch dazu manchesmal in unfokussiert eingefügten Nebensträngen des Plots. Nur einmal brechen heftige Emotionen aus: Als Julyvonne und ihr Vater die inhaftierte Mutter besuchen, realisiert diese, was ihrem Kind angetan wird und – schlimmer noch – dass sie aus dem Gefängnis heraus nichts unternehmen kann gegen die intellektuelle und soziale Verkrüppelung ihres Kindes. „Die Augen dieses Mädchens sind vollkommen leer!“, schreit sie den Vater voller Entsetzen und Hilflosigkeit an.
Das Québec von Denis Côté ist nicht nur von physischer, sondern auch von zwischenmenschlicher Kälte geprägt, von Armut und Puritanismus. Wie Symptome gesellschaftlicher Defekte tauchen in Curling immer wieder ganz unvermittelt tote Körper auf – Julyvonne, ein seelischer Zombie, fühlt sich ihnen fast näher als den wenigen Mitmenschen ihres Lebens.

In Nordamerika ist home-schooling, die schulische Erziehung ohne Klassenkameraden – allein mit den eigenen Eltern, legal. Oft stecken religiöse Motive dahinter – sektiererische Ideologien, die die Welt als sündhaft und verdorben betrachten und daher schon im Diesseits dem Leben so stark wie möglich entsagen, entfliehen wollen.
Curling
erinnert mit dieser Thematik bis in Details immer wieder an Filme wie Carrie (1976) oder Seul contre tous (1998), die einen ähnlichen Rückzug ins Private, speziell in die idealisierte (und trotz aller Selbstunterdrückung doch nie erreichte) Asexualität der Familie, als Antwort des überforderten Individuums darstellen. Wer im Vorjahr auf dem selben Berliner Festival (Around the World in 14 Films) den griechischen Beitrag Kynodontas (Dogtooth, 2009) gesehen hat, weiß, dass aus elterlicher Liebe paradoxerweise ein Schreckensregime von Isolation, Manipulation und Repression erwachsen kann. Im Vergleich zu Dogtooth ist Curling jedoch in puncto narrativer Kohärenz, dramaturgischer Dynamik und politischer Metaphorik ebenso unterentwickelt wie Julyvonne.

Curling
(Kanada 2010)
Regie:
Denis Côté; Drehbuch: Denis Côté; Kamera: Josée Deshaies; Schnitt: Nicolas Roy; Darsteller: Emmanuel Bilodeau, Philomène Bilodeau, Roc LaFortune, Sophie Desmarais
Länge:
92 Min.
Verleih:
Doc & Film International

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