Armee der Schatten

Ohne Zweifel hat der Fall des Kinderschänders Marc Dutroux auch das belgische Kino nachhaltig beeinflusst. Das Thema Kindesmissbrauch wurde und wird seit Bekanntwerden des Verbrechens und der Verstrickung der Behörden darin mal offensichtlich mal unterschwellig filmisch verarbeitet. Werke wie „The Alzheimer Case“ (B/NL 2003), „The Ordeal“ (B 2004), und „Ordinary Man“ (B 2005) verfolgen jedoch nicht nur den Zweck, etwas zur Schau zu stellen, was unsichtbar geblieben ist, sondern transponieren das Thema gleich auf eine Ebene, die als „Verarbeitung“ des Traumas gewertet werden kann. Dass der jüngste Beitrag, Frank van Mechelens „Intruder“, eigentlich gar nicht von Kindesmissbrauch handelt, obwohl das das Thema des Films ist, zeigt, wie tief sich dieses Trauma in die Gesellschaft und ihre Kunst eingegraben hat.

 Das Leben des jungen Arztes Tom gerät vollständig aus den Fugen als seine 12-jährige Tochter Louise plötzlich „verschwindet“. 18 Monate lang sucht er in seiner Heimatstadt nach Hinweisen, die aufklären, wo sie sein könnte. Er verteilt Fotos von ihr, spricht fremde Menschen an und verdächtigt jeden aus den nichtigsten Anlässen, ihm Informationen zu verschweigen. Als er in einer Bar auf die 16-jährige Charlotte nia trifft, die sich das Foto der Verschwundenen einen Augenblick zu lang ansieht, glaubt er, in ihr eine Zeugin gefunden zu haben. Er nimmt sie mit zu sich nach Hause und wird am nächsten Morgen mit dem Verdacht konfrontiert, das Mädchen, das selbst seit anderthalb Jahren als vermisst gilt, missbraucht zu haben. Er kann den Vorwurf entkräften, sieht im Schicksal der Außreißerin jedoch einen weiteren Hinweis auf den Verbleib seiner Tochter und reist ihr zu ihrem Heimatort nach. Dort stößt er nicht nur auf eine Mauer des Schweiges – nicht einmal die Polizei stellt Nachforschungen über den Grund des so langen Fernbleibens des Mädchens an –, sondern entdeckt auch immer mehr Spuren, die auf das Schicksal seiner Tochter hinweisen.

„Intruder“ operiert geschickt mit dem allgegenwärtigen Verdacht des Kindesmissbrauchs. Wowohl Tom als auch dem Zuschauer ist von Beginn an klar, dass die kleine Louise das Opfer von Kindesentführern ist. Und die Tatsache, dass ihr Vater sie sucht, obwohl er eigentlich längst weiß, wo sie ist, deutet darauf hin, dass es ihm mehr um die Suche nach dem Sinn hinter der Tat geht. Am Schicksal von Charlotte spiegelt er wie der Zuschauer diese Suche: Der Teenager ist von zu Hause fortgelaufen, weil sie von ihrem Vater missbraucht wurde. Doch ihre Rückkehr nach Hause ist gar keine echte Rückkehr, sondern nur eine weitere Etappe ihrer Flucht – das Dorf in den Ardennen, wohin sie von der Polizei zurück gebracht wird, ist gar nicht ihre echte Heimat. Dass sie dort aber ebenso aufgenommen wird und den Platz einer Verstorbenen einnimmt, ist abermals einem Trauma zu verdanken.

Frank von Mechelens Film ist voller Geheimnisse, erzählerischer Fallstricke und plötzlichen Wendungen. Diese präsentieren sich jedoch nie als reine „Überraschungsmomente“, sondern sind stets Bestandteile einer sich wieder gerade rückenden Sicht auf die Wirklichkeit und einer Entfernung vom „Wunsch“, dass alles viel schlimmer gewesen sein möge, als es eigentlich ist. Dass das „belgische Thema“ Kindesentführung und –missbrauch hier im Vordergrund steht, ist jedoch keineswegs als Anklage gegen falschen Anklagen zu verstehen, sondern zeigt den schwierigen gesellschaftlichen und individuellen Prozess der Normalisierung nach einer solchen Schreckenstat. Die Realität ist selbst im Film manchmal viel banaler, als sie zu sein scheint und hinter dem Verbrechen steht oft genug die Trivialität des Alltägliche. Insofern ist die „Armee der Schatten“, als die Tom die jährlich über 2500 verschwindenden Kinder bennent eben auch gar keine Gruppe mit einem Gruppenschicksal, sondern es sind je individuelle Geschichten mit einem guten oder einem schlimmen Ende. Und „Intruder“ ist eine von ihnen.

Intruder
(De Indringer, Belgien 2005)
Regie: Frank van Mechelen; Buch: Buch: Ward Hulselmans & Haydee Nackaerts; Musik: Steve Willaert; Kamera: Lou Berghmans; Schnitt: Joris Brouwers
Darsteller: Steve Aernouts, Brigitte Boisacq, Axel Daeseleire, Erik De Backer, Koen De Bouw u.a.
Länge: 115 Minuten
Verleih: epiX


Die DVD von epiX

Leider hat der Film hierzulande keinen Kinostart bekommen. epiX bringt ihn dennoch zeitnah zum Fantasy-Filmfest, allerdings in recht spartanischer Ausstattung, auf DVD heraus.

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Bildformat: 16:9 (1:2,35) HDTV
Audio: Franzsösich DD 2.0 & 5.1; Deutsch DD 2.0 & 5.1
Untertitel: Französisch, Deutsch
Specials: Original-Trailer, Making Of, Fotogalerie: Darsteller, Fotogalerie: Am Set, Filmografie: Koen de Bouw, Epix Trailershow
FSK: ab 16 Jahren

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