Agitprop mit Biss

Rechtzeitig zum 40. Jahrestag der 68er-Revolte veröffentlicht Kinowelt nun endlich Hans W. Geißendörfers Vampirfilm „Jonathan“ auf DVD. Im 19. Jahrhundert blutet das Terrorregime eines finsteren Vampirgrafen (Paul Albert Krumm) eine ländliche Gegend nahe der Ostsee aus. Doch gegen den Usurpator formiert sich Widerstand, als ein Vampirismus-Professor seine Studenten zum Umsturz aufruft. Da die eigenen Streitkräfte den Feinden hoffnungslos unterlegen sind, wird der Student Jonathan (Jürgen Jung) vorausgeschickt, um die im Schloss des Grafen gefangengehaltenen Bauern zu befreien und als Waffenbrüder hinzuzugewinnen.

Hans W. Geißendörfer erzählt revolutionären Klassenkampf im Gewand des Vampirfilms: Ausgehend von der Form des zeitgenössischen Horrorfilms der Hammer Studios (ebenso finden sich Reminiszenzen an Polanskis „Tanz der Vampire“ oder die Hexenjäger-Filme) entwickelt er eine ätherisch-verfremdete Filmsprache, die den Zuschauer von Anfang bis Ende mesmeriert: schwerelos umschweift die Kamera (Robby Müller) die vampirische Hofgesellschaft, die wie hypnotisiert in ihren mit Farbsymbolik aufgeladenen Kostümen in ebenso barocken Dekors zu romantisch-träumerischem Klängen Edvard Griegs ihre Ballett-Choreographien vollführen. Der Graf ist selbst ganz Zeremoniell, ganz ästhetizistische Überfeinerung. Der Bühnenschauspieler Paul Albert Krumm versieht die Rolle des faschistisch-aristokratischen Tyrannen mit einem melancholischen Unterton, so dass, wie später Kinskis Nosferatu („Nosferatu – Phantom der Nacht“, 1979), die Tragik von Eros und Thanatos spürbar wird.

Die Welt der Unterdrückten hingegen ist Verfall und Krankheit: die Bauern leben in permanenter Schreckensstarre, reagieren auf Fremde mal mit Feindseligkeit, mal entlädt sich der Volkszorn gegen die Schwächsten in den eigenen Reihen. Selbst die geschundenen Insassen im Schlossverlies wollen nicht auf Anhieb von Jonathan befreit werden.

Geißendörfers „Jonathan“ atmet den Geist von 68 vielleicht mehr noch als Rudolf Thomés „Rote Sonne“, der ja die revolutionäre Ideologie (und vor allem den Feminismus) eher verspottet. „Jonathan“ hingegen ist einerseits Agitprop in frappierend-naiver Direktheit. Durch die genreinhärente Ambivalenz des Horrorfilms wird aber auch das ideologische Konstrukt (ob bewusst oder unbewusst) unterlaufen: insbesondere der Vampir verkörpert die Macht der Verführung am eindrücklichsten: Als Jonathan im Schloss des Grafen gefangen genommen wird, wirft er den Eindringling nicht einfach in den Kerker, sondern er bietet ihm generös das Gastrecht an. Er dürfe sich im Schloss frei bewegen, nur die verschlossenen Räume dürfe er nicht betreten, so der Graf. Natürlich widersetzt sich Jonathan dem Diktat – doch dem Zuschauer bleibt der latente Zweifel, ob das Leben in der vampirischen Edelkommune nicht dem Dasein mit dem dörflichen Lumpenproletariat vorzuziehen gewesen wäre. Am Ende des Films beschleicht einen das Gefühl, dass auch Jonathan nicht so recht von der Revolution überzeugt ist.

Eine Veröffentlichung von „Jonathan“ war bislang eines der großen Desiderate des deutschen phantastischen Films. Herzog behauptete, 50 Jahre lange hätte sich niemand an Murnaus Nosferatu herangewagt (und nach ihm würde sich ebenso mindestens 50 Jahre niemand an den Stoff getrauen). Falsch! „Jonathan“ erinnert ästhetisch nicht nur zuweilen an den Murnau-Klassiker, sondern auch an Dreyers „Vampyr – Der Traum des Allan Grey“ (1931), aber vor allem ist „Jonathan“ ein wunderbares Filmexperiment mit genuiner Eigenästhetik. Vor Werner Herzogs etwas prätentiösen „Nosferatu – Phantom der Nacht“ (oder „Andy Warhol’s Dracula“ (Paul Morrissey, 1974), der ebenfalls das Klassenkampfthema aufgreift) muss sich Geißendörfers bescheidener Beitrag zum Vampirfilm wahrlich nicht verstecken.

Jonathan
(Bundesrepublik Deutschland 1969)
Regie und Drehbuch: Hans W. Geißendörfer, Kamera: Robert Müller, Musik: Roland Kovac
Darsteller: Jürgen Jung (Jonathan), Paul Albert Krumm (Graf), Ilse Künkele (Lenas Mutter), Oskar von Schab (Professor), Hans-Dieter Jendreyko (Joseph), Eleonore Schminke (Lena)
Länge: 97 min.
Verleih: Kinowelt

Die DVD von Kinowelt

Kinowelt / Arthaus veröffentlicht den Film in der Geißendörfer-Reihe, in der bisher „Gudrun“, „Ediths Tagebuch“, „Carlos“, „Bumerang, Bumerang“ und „Die gläserne Zelle“ erschienen sind. Als Bonusmaterial gibt es – neben einigen Texttafeln, Fotogalerien, einem Presseheft zum Film als PDF und Werbetrailern – ein ausführliches und sehr aufschlussreiches Interview mit Hans W. Geißendörfer zu „Jonathan“ und seinen Anfängen als Regisseur.

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Format: Dolby, HiFi Sound, PAL
Sprache: Deutsch (Dolby Digital 1.0)
Bildseitenformat: 4:3
FSK: Freigegeben ab 16 Jahren
DVD-Erscheinungstermin: 20. Juni 2008
Extras: Interview mit Hans W. Geißendörfer, Biografie Hans W. Geißendörfer, Presseheft als PDF, Fotogalerie, Trailer
Preis: 15,97 Euro

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Jörg Hackfurth

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