Werner Herzog Filmabend I

1.

Anfang der siebziger Jahre etablierte sich der abenteuerlustige Filmemacher Werner Herzog als eine einzigartige Erscheinung innerhalb der deutschen Filmlandschaft. In zahlreichen Filmen, oft kongenial mit Klaus Kinski besetzt, erzählte er von der „Eroberung des Nutzlosen“ (Bernd Kiefer), einem monumentalen aber tragischen Scheitern fiktiver und historischer Abenteurer. Den prominentesten Versuch dieser Art unternahm Herzog in einem unvergesslichen Klassiker von 1971: „Aguirre – Der Zorn Gottes“. Die Amazonasexpedition einiger spanischer Konquistadoren gerät hier zum Himmelfahrtskommando – in dem Wahn, das legendäre Goldland Eldorado zu entdecken, dringt Aguirre mit seinen Leuten immer tiefer ins „Herz der Finsternis“ vor. Wenn man Werner Herzogs eigenen Aussagen glauben darf, verschmolzen Dreharbeiten und Film zu einer irrwitzigen Melange, die sich deutlich in der fieberhaften Intensität der Inszenierung spiegelt.

Unvergessen ist auch der legendäre Kurzfilm „La Suffrière“, in dem das Herzog-Team auf den scheinbar bevorstehenden Ausbruch des gleichnamigen Vulkans wartet, während sogar die Reptilien die Insel verlassen. Begleitet von Herzogs fatalistischem Kommentar verdeutlicht dieser Film mehr als viele andere die Idee einer „Eroberung des Nutzlosen“. Der Vulkan schweigt, und zu faszinierenden Naturbildern hören wir Richard Wagners Schicksalsthema „Siegfrieds Tod“.
Herzog glaubt fest an jenen rituellen Charakter der Kunst und an die Effektivität des Opfers. In „Fitzcarraldo“ (1981) soll ein komplettes Schiff mit menschlicher Kraft über einen Urwaldberg gezogen werden. Seine Vision verlangt das Unmögliche. Vielleicht ist es die Vergeblichkeit solcher ‚Opfergänge’, die Herzogs Werk so einzigartig macht. Auch wenn der obsessive Abenteurer Fitzcarraldo (Klaus Kinski) am Ende seine Ziel teilweise erreicht hat: die Oper in den Dschungel zu bringen – so bleibt der Moment des Triumphes ein flüchtiger.

Die Eroberung des Nutzlosen – sie steht auch im Mittelpunkt von Herzogs berühmten essayistischen Dokumentarfilmen „Fata Morgana“ und „Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“. Ich möchte mich diesen beiden Filmen unter einem jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkt nähern, der zugleich der spezifischen Inszenierung dieser Filme Rechnung trägt: In einer Betrachtung der Zeitlupe und des Landschaftsbildes als Introspektion.

2.

In der englischsprachigen Filmwissenschaft nennt man die filmische Dehnung der Zeit schlicht ‚slow motion’: die verlangsamte Bewegung als banales Ergebnis der Zeitmanipulation. Interessanter ist da der deutschsprachige Begriff: Zeitlupe. Er verbindet den Schlüsselbegriff der Zeit, der für das Medium von elementarer Bedeutung ist – so kann man Film auch als Geschehen pro Zeit definieren –, mit der Funktion einer Lupe, eines Vergrößerungsglases. Für den Film ist also nicht nur die Nahaufnahme als Lupe zu definieren1, sondern auch die Verlangsamung von Zeit und Geschehen. Eine Bewegung genau zu betrachten erfordert nicht nur, das Objekt selbst scharf und nah zu sehen, sondern zugleich auch im Luxus einer erweiterten Zeit zu betrachten. Insofern entfernt sich das Medium Film zugleich von der naturalistischen Abbildung der Realität und nähert sich ihr indirekt wiederum an: In dem die filmische Zeitlupe eine bestimmt Intensität beschwört, die in der phantomhaften Flüchtigkeit der filmischen Projektion allzu leicht verloren gehen kann.

Erste Experimente mit den Vorzügen der Zeitlupe wurden bereits in der frühen Reihenfotografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts unternommen. Zeitlupe lässt uns staunen und erweitert unsere sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit. Wir sehen Dinge, die sich durch ihre Geschwindigkeit der menschlichen Wahrnehmung entziehen. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass die vermeintliche Verlangsamung der Zeit eine Apparatur voraussetzt, die um ein vielfaches Aufnahmefähiger (also schneller) als unser optischer Wahrnehmungsapparat ist: Bereits 1894 entstand ein Apparat, der 250 Bilder pro Sekunde aufzeichnen konnte. 1904 beginnt unter Lucien Bull die Forschungsaktivität zur Zeitlupe mit wissenschaftlichen Ambitionen. 1909 entstand in Österreich eine Kamera, die 5000 Bilder pro Sekunde aufzeichnete.

Bemerkenswert ist dabei, dass Zeitlupe technisch gerade nach einer umgekehrten Definition verlangt, denn je mehr Bilder pro Sekunde aufgezeichnet werden, umso langsamer ist der resultierende Bewegungseindruck. Die zugrundeliegende Handlung, die es aufzuzeichnen gilt, verändert sich dadurch nicht, es sei denn, sie wird ihrerseits für die Kamera verlangsamt durchgeführt – solche Momente gespielter Zeitlupe finden sich quer durch die Filmgeschichte, etwa um den Gefahren einer unkontrollierbaren Geschwindigkeit bei Verfolgungsjagden und vergleichbaren Actionszenen zu entgehen.2

Obwohl in der realen menschlichen Wahrnehmung immer wieder von zeitlupenhaften Wahrnungsmomenten gesprochen wird, muss man davon ausgehen, dass das filmische Mittel der Zeitlupe nicht als Vermittlung objektiver Realitätseindrücke taugt. Vielmehr hat es sich für Darstellung des Außeralltäglichen, des Affektiven oder gar Irrealen etabliert: zur Vermittlung innerer Bilder, von Visionen und Träumen.

Die frühen Reihenfotografien von Eadward Muybridge beschäftigten sich ausgiebig mit der detaillierten Dokumentation von Bewegung. So zeigte er ein Pferd im Sprung, hüpfende und laufende Menschen. Diese Faszination an dem genauen Blick auf den agilen und in Bewegung geformten – oder auch deformierten – Körper hat sich bis ins Kino bewahrt – man denke nur an die verlangsamten Schläge und Treffer in Martin Scorseses Boxerfilm Raging Bull / Wie ein wilder Stier (1980). Angesichts der hier evozierten brachialen Wucht, mit der die Schläge auf Fleisch und Knochen treffen, mutet die frühere Beobachtung des Philosophen Ernst Bloch fast irritierend an: „Das verlangsamte Leben wirkt leicht und friedlich, Boxer streicheln sich, der Kinnhaken landet als Liebkosung.“3 Es ist anzunehmen, dass Scorseses massiver Einsatz von Ton- und Make-Up-Effekten in solchen Szenen diese mögliche ‚friedliche’ Wirkung unterläuft.

Außerhalb des Mediums Film hat die Zeitlupe vor allem ihren festen Platz im „Replay“ der Sportaufzeichnung im Fernsehen. Bereits Béla Balázs stellt das Vergnügen an filmischen Sportaufnahmen fest , er bemerkt jedoch: „Unsere Freude an der Darstellung von sportlichen Leistungen im Film ist auch ein Natur- und kein Kunstgenuss. Womit nichts dagegen gesagt sein soll. […] Die Sportaufnahmen im Film haben den Vorzug vor der Wirklichkeit, dass sie viel sichtbarer sind. Denn auf dem Sportplatz können wir nur an einer Stelle auf einmal sein und die Vorgänge nur aus einer Perspektive sehen. Im Kino aber sehen wir sie von vorne und rückwärts, von dieser und von der anderen Seite, wobei der spannende Moment (der in Wirklichkeit zu schnell verfliegt, um richtig begriffen und ausgekostet zu werden) einige Mal zurückgeholt und die Zeit fast zum Stehen gebracht wird. So kann das Kinopublikum beim Schnellen verweilen, beim Plötzlichen verbleiben und – ganz unnatürlicherweise – Dinge betrachten in deren eigentlichem Wesen es liegt, dass man sie höchstens bemerken, aber nicht betrachten kann.“ Die Zeitlupendarstellung ist dieser Schilderung bereits inhärent („verweilen“, „verbleiben“), wird aber nicht selbst thematisiert. Einen sehr berühmten Ausdruck findet diese ‚unnatürliche’ Vermittlung sportlicher Bewegungschoreografie in der Turmspringer-Sequenz aus Leni Riefenstahls Olympia – Fest der Schönheit (1938), der nicht nur verschiedene ungewöhnliche Perspektiven einnimmt, die Bewegung dehnt und umkehrt, sondern durch Montage auch noch Doppelungen schafft, die Zeit also buchstäblich dupliziert. Diese Montagefolgen „stellen pathetisch die Schönheit und die Bewegung des menschlichen Körpers im athletischen Vollzug dar“5, sie schaffen dabei zugleich ein irreales, idealisiertes Bild des menschlichen Körpers in der Bewegung.

Eine sehr reine Form einer solchen Extremzeitlupe hat dagegen Werner Herzog für seine Ski-Dokumentation Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner (1973) gedreht: Hier sehen wir den verlangsamten Schanzensprung in einer fast geisterhaften Eleganz und Länge, die den späteren Unfall des Protagonisten schicksalhaft vorwegzunehmen scheint. Das Gesicht des Skispringers wird von der Wucht des Gegenwindes deutlich aufgebläht und verzerrt, seine Kleidung flattert trotz der Verlangsamung noch sichtbar am Körper. „Die Zeitlupenaufnahmen betonen mit ihrer gedehnten Darstellung der Flüge und Stürze nicht nur deren dokumentarischen Charakter, sie bewirken auch eine ästhetische Verfremdung. Pflanzenhaft geschmeidig schlängelt sich ein Körper über den Schnee, und während man noch auf die weichen, zerfließenden Bewegungen starrt, womit Arme und Beine den Leib umschlingen, sich lösen und ihn wieder umschlingen, weiß jeder, dass er einem schweren Unfall zusieht. Diese Spannung erzeugt, gedämpft vom Dunkel des Zuschauerraums, einen sachten Schock. Es ist jener, bei dem man erkennt, dass man auf einen solchen Sturz, eine solche Unterbrechung des Flugspektakels gewartet hat.“6 Auch hier könnte man von einer Überhöhung sprechen, jedoch ist es jene des Kampfes von Menschen gegen Naturgewalt, die sich – so die Quintessenz des Films – letztlich nicht überwinden lässt. Doch die Riefenstahlsche Leichtigkeit, die reine Feier von Körper und Bewegung, ist hier einer beklemmenden fatalistischen Schwere gewichen, wobei Musik und Montage ein Übrigens zu diesem Eindruck beitragen. Herzogs Film treibt die Zeitlupe des Sportfilms an einen Endpunkt, an dem ein Umschlag in Philosophische möglich scheint: Wir beobachten das Wirken alles verschlingender, kaum noch kontrollierbarer Kräfte, die den Körper zum Spielball der Elemente machen. In langen, poetischen Passagen beobachten wir – wie es Jean Cocteau einst formuliert – den Tod bei der Arbeit …

3.

Werner Herzog, der Visionär unter den Filmemachern des Neuen deutschen Films, mag es in Interviews und Kommentaren bestreiten – seine Bildkompositionen aber sprechen dafür: Herzogs filmische Landschaftsmalerei ist zunächst einmal der Romantik (bis hinein in den Symbolismus) verpflichtet. Und zugleich – und diese Lesart bestätigt er selbst in Interviews immer wieder – handelt es sich bei seinen eindrucksvollen, archaischen Panoramen, in denen das Individuum immer wieder zu verschwinden droht, um ‚innere Landschaften’. In einem Text über Herzogs Bildwelten merkt Thomas Koebner an: „Für Werner Herzog sind die Naturbilder […] Chiffren der Konfrontation und des Übergangs: der Konfrontation mit der Wildnis, dem großen Unbekannten […], und des Übergangs vom Alten ins Neue.“ Insofern stehen viele seiner filmischen Impressionen den Bildkompositionen der Malerei näher als dem eigentlichen Medium.

Ohne die Bedeutung der griechischen Insel Kos als symbolischem Handlungsraum für Herzogs ersten Langfilm „Lebenszeichen“ (1968) bestreiten zu wollen, kann man vor allem den eigenwilligen Essayfilm „Fata Morgana“ (1968/1969) als die erste explizite Landschaftsetüde sehen, in der der dokumentarisch aufgezeichnete und in der Montage neu erschaffene filmische Raum wichtiger wird als die vereinzelten Protagonisten. Als sich Herzog während der Dreharbeiten zu „Auch Zwerge haben klein angefangen“ auf der Vulkaninsel Lanzarote aufhielt, entstanden dort die wesentlichen Bilder verödeter Landstriche für den vergleichsweise abstrakteren Film „Fata Morgana“. Weitere Drehorte waren die Sahara, vor allem die algerische Wüste. Mit „Fata Morgana“ liegt ein direkter Vorläufer des ebenfalls zivilisationskritischen Kaleidoskops „Koyaanisqatsi“ (1983) von Godfrey Reggio vor. Herzog gliedert den Film in drei Teile: 1. Schöpfung, 2. Das Paradies und 3. Das goldene Zeitalter, wozu er wiederholt Texte aus dem mythischen Buch der Mayas, dem „Popol Vuh“, vortragen lässt (u.a. von der von ihm verehrten Filmhistorikerin Lotte Eisner). Diese Titel können durchaus ironisch verstanden werden, künden die montierten Bilder doch eher von Zusammenbruch, Verfall, Verwüstung und Elend. Neben langen, poetischen Fahrten stehen kurze Posen oder Statements kurioser Persönlichkeiten, von Wüstenbewohnern und Aussteigern… Auf dem Soundtrack hören wir assoziative Texte und vor allem unterschiedliche Musik, allem voran drei Lieder von Leonard Cohen („That’s no way to say goodbye“, „Susanne“ und „So long, Marianne“), die eine eigenartige Melancholie beschwören. Im letzten Teil sehen wir deprimierende Bilder aus einem Bordell auf Lanzarote, wobei hier der DVD-Kommentar Herzogs interessant ist, etwa wenn er erklärt, die hier auftretenden Bühnenmusiker seien die Bordellchefin und der Zuhälter, der die Dreharbeiten gelegentlich unterbracht, um im Etablissement für „Ordnung“ zu sorgen …

Herzogs essayistisches Bilderkaleidoskop bestimmt eine oft quälende Länge der Einstellungen, das Aufgehen des reproduzierten Nicht-Raumes in der Zeit. Lange, stehende Einstellungen, ausgedehnte horizontale Fahrten, über Dünen und Einöden. Hier gibt es trotz der Bewegung keine Entwicklung. Die Wüste ist Stillstand. Und auch die Perspektive, sonst immer auch eine Frage der „Politik im Kino“ (Abel Ferrara), verliert in diesem Umfeld ihre Prägnanz: Die Blickrichtung wird willkürlich, da sich von Horizont zu Horizont die immergleiche Leere fortsetzt. Immer wieder sprach Werner Herzog von seinen Landschaften als ‚Inneren Räumen’, als ‚Seelenlandschaften’. So ist „Fata Morgana“ kein Dokumentarfilm, sondern die möglicherweise reinste Form der Herzogschen Vision einer ganzen Welt als Spiegel der Seele. Hier hat das Vorgefundene, filmisch Dokumentierte keinen eigenen Charakter mehr, hier wird die kadrierte Welt selbst nur noch zum Ausdruck und Resonanzraum des artistischen Egos. Die Landschaft gerät zum Introspektionsraum.

Konträr geht Herzog in seinen anschließenden Filmen der 1970er Jahre vor. Hier wird die Perspektive unversehens dominant: Man betrachte sich einzelne Tableaus aus „Kaspar Hauser – Jeder für sich und Gott gegen alle“ (1974), „Herz aus Glas“ (1976) und „Nosferatu – Phantom der Nacht“ (1978). Immer wieder tauchen in Herzogs Filmen Bilder von Strand und Meer auf. Von der Romantik borgt er sich das Meer als Motiv von Sehnsucht nach Weite und Unendlichkeit, aber auch nach dem Tod. Das Wasser gerät zum Medium des Übergangs in eine andere Welt, wie sie der Maler Arnold Böcklin in seinen berühmten Bildern der „Toteninsel“ konkretisiert: schroffe Klippen, ein wolkenverhangener Himmel, hohe, düstere Bäume und ein undurchdringliches, schwarzes Zentrum zeichnen seine Vision aus. Davor treibt ein fragiles, kleines Boot. „Herz aus Glas“ spielt auf einer solchen finsteren, oft nebelverhangenen Insel mitten im bleigrauen Meer, das zugleich als Grenze zur Außenwelt fungiert. Der Film entwirft hier einen symbolischen Raum, der gleichsam bereits im Jenseits zu schweben scheint – eine Schwellenzone zu einer anderen, unbekannten Welt. Als man die Insel in der Dämmerung aus einer Luftaufnahme sieht, erinnern ihre kantigen, nach links neigenden Felsen zugleich an ein anderes Gemälde: Caspar David Friedrichs „Felsenriff am Meeresstrand“. Was wie eine Ruine wirken mag, ist eigentlich eine Welt jenseits des menschlichen Einflusses. Ein Ort von Sehnsucht und Alptraum zugleich… In diesem Film entfaltet Herzog mit seiner Kamera wie Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ am Drastischsten die ihm eigene Landschaftsinszenierung: Hier konstruiert er die hermetische Inselwelt aus Aufnahmen der unterschiedlichsten Landschaften und Orte.

Friedrichs emblematisches Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ thematisiert bereits ein grundlegendes Dilemma der Romantik: Der Mensch findet sich in einer Zwischenwelt wieder, ist nicht mehr der Welt zugehörig, aber auch noch nicht ganz im Himmel angekommen. Man könnte auch in „Kaspar Hauser“ (Bruno S.) in Herzogs gleichnamigem Film eine solche Figur erkennen. Zu Beginn der Films sehen wir ihn während des Sonnenuntergangs von einem Hügel aus ins Tal blicken: auf eine Welt die er nicht versteht – und die ihn nie verstehen wird.

So sehr er sich auch gegen diese Erkenntnis wehren mag, Herzog ist den Sehnsüchten der Romantik zutiefst verpflichtet. Koebner stellt in seinem Text „Vom Vorlaufen an die Grenze“ fest: „Knüpft solches Denken nicht an den Erkenntnisdrang der deutschen Romantik an, die das Exil aus der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Geistesverfassung ersehnte, weil jenseits dessen etwas sei, was eine reichere Existenz verspreche. Entsprechen nicht die grandiosen Wagnisse, die einige der Helden in den Filmen Werner Herzogs riskieren, den Phantasiereisen der Romantiker bis ans Ende der Welt oder bis an die Schranke, hinter der sich eine ‚ganz andere Welt’ öffnet?“ Die Reise ins Absolutum, ans ‚Ende der Welt’, treten tatsächlich Protagonisten in einem Herzog-Film an: Am Ende von „Herz aus Glas“ machen sie sich in einem filigranen Ruderboot auf und stechen in die weite See, um zum Ende der Zeiten und Dinge zu gelangen. Auch in diesem Bild liegt die tiefe Sehnsucht von Herzogs anderen ‚Inneren Landschaften’ verborgen: Himmel und Meer verschmelzen am Horizont, das kleine Boot wirkt wie ein Fremdkörper in dieser Wasserwüste, ausgeliefert und letztlich unbedeutend – seinem Schicksal überlassen. Eines von vielen ‚letzten Bildern’, die Herzog Werk durchziehen, angefangen jedoch mit einem absoluten Ende: mit der existenzialistischen Leere seiner Wüstenbilder aus „Fata Morgana“.

Fußnoten

(1) Z.B. bei Béla Balázs: Geist des Films [1930], Hrsg. Hanno Loewy, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 56
(2) In Carlos Sauras BODAS DE SANGRE / BLUTHOCHZEIT (1981) etwa kommt gespielte Zeitlupe in der Körperchoreografie zu wirkungsvollem Einsatz.
(3) Ernst Bloch: Zeitlupe, Zeitraffer und der Raum, in: ders.: Verfremdungern II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 201
(4) Béla Balázs: Der sichtbare Mensch [1924], Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 79
(5) Hans J. Wulff: http://www.bender-verlag.de/lexikon/, Stichwort „Zeitlupe” (22.6.2006)
(6) Jürgen Theobaldy: Fahrten ins Ungeheure. In: Werner Herzog (Reihe Film 22), München / Wien: Hanser 1979, S. 34

© by Marcus Stiglegger

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