Krieg – Photographie – Gewissen

»Mein größtes Problem als Fotograf des Krieges ist,
dass ich vom Elend anderer profitieren könnte.
Dieser Gedanke verfolgt mich. Ich schlage mich
tagtäglich damit herum, weil ich weiß,
dass ich meine Seele verkaufen würde,
wenn ich jemals Karriere und Geld Herr
werden ließe über mein Mitgefühl«
(James Nachtwey)

»Ich weiß nicht, was ihn wirklich antreibt«
(Christiane Amanpour, Chefkorrespondentin CNN)

James Nachtwey ist wohl der bekannteste und bei den Medien begehrteste Fotograf des Krieges und des Elends seit Jahren. Der Schweizer Regisseur Christian Frei dokumentiert in seinem Film die Arbeit und die Person Nachtweys. Die hiesige Filmkritik antwortet unterschiedlich. Während die »Süddeutsche Zeitung« ihn nicht nur als einen »der mutigsten, sondern auch besten Kriegsreporter« tituliert, der einen klaren Blick behalte und den Respekt vor denen wahre, die er fotografiert, katapultiert sich Markus Stöhr vom »Schnitt« – aus sicherer Entfernung von den Konfliktherden der Welt – zum selbst ernannten Moralapostel: »Eine spezielle Mikrokamera wurde entwickelt und an Nachtweys Fotoapparat befestigt, um ihn auch noch in solchen Situationen zu beobachten, die für die Crew zu gefährlich gewesen wären – eine High-Tech-Farce, die den Thrill des unsichtbaren Bildes feiert und das Dokumentarische in Bereiche treibt, wo es sich gleichsam wieder fiktionaler Muster bedient«. Der Film erkläre Nachtwey »zum Indiana Jones des Weltgewissens. […] Frei interessiert nur die Visualisierung der Visualisierung dieses Elends, und das ist unmoralisch. Möge sein Sekt bei der nächsten Vernissage schal werden.« So einfach ist das bei Journalisten.

Annette Weber von der »taz« stellt sich neben Stöhr und prustet: Er sei zwar »politisch, analytisch und höflich. Nachtwey lernt zumindest die Begrüßung in der jeweilig kriegsrelevanten Landessprache. Er bleibt bei den Leuten, die er auf seinen Film bannt, und übergibt sie nicht unbedingt ihrem Schicksal. Er bringt sich ein und versucht, Leben zu retten. Er ist überzeugt, dass die Ungleichheit der Welt zu all den Kriegen führt und dass, wenn jeder Mensch einmal im Leben einen Krieg aus der Nähe gesehen hätte, die Zeit der Kriege vorbei wäre. Doch das Schweigen, das Warten, das endlose Wiederholen, dieser repetitive [das Wort steht nicht im Duden, soll wohl heißen: wiederholte, d. Verf.] Wahnsinn von Anstacheln, Abschlachten und Betrauern – das stellt auch James Nachtwey nicht dar. […] Wo bei den Kollegen die Arroganz, die Selbstüberschätzung, die Menschlichkeit und die schnelle Gereiztheit dazu führen, dass das, was man erlebt im Geschäft des Darstellens des Krieges, auch vor Ort zurückgelassen werden kann, herrscht bei Nachtwey das perfektionistisch Abgeschlossene. Dadurch ist er selbst zu einer dieser unauffälligen Unerträglichkeiten der Kriege geworden.« (Man verzeihe mir das lange Zitieren.) Glaubt man Nachtweys Kollegen von der Presse, könnte man den Dokumentarfilm Freis bereits jetzt ad acta legen. Da ich nicht gläubig bin, lasse ich es bleiben.

Der 1948 in Massachusetts geborene James Nachtwey, der auf dem Dartmouth College Kunstgeschichte und Politikwissenschaften studierte, arbeitete nach dem Studium zunächst als LKW-Fahrer und auf Handelsschiffen, bevor er Assistent eines Nachrichtenredakteurs bei NBC in New York wurde. 1976 begann seine Tätigkeit als Fotograf in Mexiko, seit 1980 ist er freier Fotograf in New York. 1981 begann Nachtweys Karriere als international renommierter Fotograf mit Aufnahmen von den Unruhen in Belfast in Nordirland.

Seit dieser Zeit fotografierte Nachtwey auf allen Kriegsschauplätzen der Welt, war in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Afrika, in Südafrika zur Zeit des Endes der Apartheid, in der Sowjetunion und in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, in Tschetschenien und in Afghanistan. 1986 bis 2001 war Nachtwey Mitglied der Foto-Agentur »Magnum«. Etliche Preise, u.a. fünfmal die Robert-Capa-Medaille, dreimal den Infinity Award des International Center of Photography, zeichneten seine Arbeit aus.

Nachtwey arbeitet instinktiv nach einem Grundsatz des wohl berühmtesten Kriegsphotographen des 20. Jahrhunderts, Robert Capa: Wenn das Bild nicht gut ist, dann war der Photograph nicht nahe genug dran. Der Film beginnt mit Aufnahmen aus dem Kosovo. Nachtwey fotografiert eine weinende Frau vor den Trümmern ihres Hauses, ist eifrig damit beschäftigt, die richtige Belichtung zu messen, scheinbar ungerührt von dem und denen, was er aufnimmt. Doch das täuscht. Die konkrete Arbeit ist begleitet vom Einverständnis der Menschen, die er fotografiert. Er fragt sie, sagt ihnen, was er mit seinen Fotos beabsichtigt, bittet sie um Erlaubnis, versucht Nähe zu ihnen herzustellen.

Nachtwey ist in gewisser Hinsicht Perfektionist. Er hält nicht drauf wie ein Papparazzi, dem es auf den Kick ankommt, auf die Sensation. Er will das Elend, den Hunger und die Folgen des Krieges so weit wie möglich in ihrem Ausmaß dokumentieren. Bei einer Besichtigung seiner Bilder bei einem New Yorker Fotofragen muss dieser mehrmals die Fotos nachbelichten, an verschiedenen Stellen, um die Wirkung des Grauens möglichst nah an der Realität zu halten. Nicht Sensationsgier treibt Nachtwey, nicht irgendetwas Rohes, Ungeschöntes will er darstellen, sondern die Menschen in der »ersten Welt« auf das aufmerksam machen, wütend machen, betroffen machen und zum Protest bringen, was im Rest der Welt passiert.

In Indonesien macht sich Nachtwey mit einer der vielen Familien bekannt, die am Rande von Djakarta in Elendshütten hausen, oft in der Nähe der Bahnlinie. Dem Vater der Familie wurden, als er eines Nachts betrunken »nach Hause« kam, von einem durchrasenden Zug das linke Bein und der linke Arm abgerissen. Zur Familie gehören seine Frau und vier Kinder. Nachtwey fotografiert sie ebenso nah und in Nähe zu ihnen wie auf andere Art die Menschen im Kosovo, etwa wie ein Mann über einem Grab kniet, den Kopf gesenkt, betend.

Bei den Intifada-Aufständen in der Westbank sieht man durch die auf Nachtweys Canon aufgebaute Mini-Cam das Geschehen aus der Perspektive des Fotografen, ebenso im Kosovo an einigen Stellen. Nachtwey sagt, das Schlimmste, was er bei seiner Arbeit je gesehen habe, sei der Völkermord in Ruanda gewesen. Er spricht leise, bedächtig, zurückhaltend. Nachtwey ist kein Mann, der selbst gerne im Visier einer Kamera steht. Selbst bei der Vorbereitung der großen Ausstellung seiner Fotos »Testimony« in New York bleibt er zurückhaltend, bescheiden. Die Aufnahmen entstanden zwischen Mai 1999 und November 2000 im Kosovo, in Djakarta, in Amallah (Palästina), in Kawah Ijen, einer Schwefelmine in Ost-Java sowie in New York und Hamburg.

Es gibt unter den Kriegs-Fotografen sicherlich menschliche Monster, die sich für die Situation der Menschen, die unter Krieg, Armut und Hunger zu leiden haben, nicht im geringsten interessieren, die Paparazzi des Elends, die nach getaner Arbeit mit den Soldaten trinken und in die selben Bordells gehen wie sie. Aber der Film über Nachtwey wirft ganz andere Fragen auf als die des Voyeurismus und des Verdienens am Elend. Diese Fragen stellt sich Nachtwey immer wieder, ständig – als Angehöriger einer Welt, in der die Formen des Elends, die er fotografiert nicht oder nur am Rande vorkommen. Aber hinter der konkreten Arbeit Nachtweys spannt sich ein Bogen, der weit zurückgeht.

Die Kriege von heute, das Elend in Indonesien, der Hunger in Äthiopien und die Slums in Rio de Janeiro sind besonders für die nordamerikanischen und europäischen Länder fremde Welten. Die Konflikte der Welt spielen sich in einer geteilten Raum-Zeit ab, nicht vor allem in einem physikalischen Sinn von Raum und Zeit, sondern vor allem in einem sozialen Sinn. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich endgültig in einer – so paradox das klingen mag – zusammengerückten Welt getrennte Erfahrungshorizonte, Lebensräume und Zeitperspektiven entwickelt. So nahe Ex-Jugoslawien uns geographisch ist, so weit entfernt ist dieser soziale Raum von dem unsrigen. Kriegserfahrung, Elendserfahrung ist nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch vermittelt – vor allem und fast ausschließlich über gewachsene und vernetzte Mediensysteme. Gäbe es diese Medien nicht, würden wir so gut wie nichts über diese Konfliktherde erfahren.

Das war einmal anders. Nicht nur im Mittelalter und der frühen Neuzeit, sondern bis zum zweiten Weltkrieg war Krieg eine unmittelbare Erfahrung, wenn auch durchaus unterschiedlich an verschiedenen Orten. In der Ost- West-Konfrontation nach 1945 änderte sich daran insofern etwas, als Krieg jetzt eine permanente Bedrohungserfahrung wurde. Selbst in dieser Epoche aber wurden Konflikte von den Großmächten zusehends regionalisiert, nicht nur in einem geographischen und geopolitischen, sondern auch in einem mentalen Sinn. Der Regionalisierung der Konflikte entsprach in wachsendem Maße die Aufteilung der Welt in soziale (ökonomische, kulturelle, politische) Räume, die zugleich eine Abschottung der Nicht-Kriegs-Welt gegen die Kriegs-Welt mit sich brachte. Der Sezierung dieser Räume entsprach eine mental und lebenspraktisch scharfe Trennung beider Welten. Wir hier schauen aus der scheinbar sicheren Perspektive der Nicht-Kriegs-Welt über Medien in die andere Welt.

Wenn der 11. September 2001 jedenfalls eines zutage gefördert hat, dann ist es die Pseudosicherheit dieser Situation. Es gibt keinen Konflikt auf der Welt, der nicht mit dem Rest der Welt zu tun hätte, aber es scheint so. An der Schnittstelle beider sozialer Räume stehen Menschen wie James Nachtwey. In seiner Arbeit konzentriert und personalisiert sich die Paradoxie einer Welt, in der einerseits alles zusammenzuwachsen, zusammenzurücken, kleiner, enger, gedrängter, abhängiger zu werden scheint und auf der anderen Seite die Trennung der Welten aufrecht erhalten bleibt. Wenn Nachtwey seine Canon – die Mini-Kamera Freis oben drauf gesetzt – auf die Zonen des Elends und seine Menschen hält, dann scheint dies Voyeurismus zu sein. Frei macht uns scheinbar zu Voyeuren des Elends. Voyeurismus ist die Handlung einer Person, die scheinbar unbeteiligt Handlungen anderer beobachtet, um sich daran zu erfreuen, Neugier zu befriedigen, Lust zu empfinden, zu glotzen.

Der Voyeurismus der »zivilisierten« Welt an den »unzivilisierten« Handlungen »anderer« aber ist ein fahler Schein – mal ganz abgesehen von der Verantwortung, die die Großmächte für einen Gutteil des Elends in der Welt selbst tragen. Es ist das von uns getrennte, aus dem Blickfeld geratene Elend, der von uns fein säuberlich getrennte Tod en masse, den die Canon in die Zonen des Pseudo-Friedens trägt. Damit verdient Nachtwey Geld. Und es ist simpel und hohl, ihm dies zum Vorwurf zu machen. Denn er postuliert nicht nur, dass er mit seinen Bildern den Schrecken, den Horror, das furchtbare Ausmaß von Völkermord, Krieg, Folter, Massakern und anderem Elend wieder zu uns zurücktragen will, damit sich etwas ändert. Genau dies tut er. Und Frei dokumentiert die Dokumentation des dokumentarisch Notwendigen, Mindesten. Fotos sind Ausschnitte der Realität, subjektive Schnitte, die nur Momente festhalten, die der Fotograf für wichtig und notwendig hält. Auch Fotos können nur mittelbar künden, Fotos von erbärmlich abgemagerten Hungernden, von niedergemetzelten, zerschnittenen Leibern. Sie halten »nur« fest, was nicht mehr reversibel ist, sind nicht unmittelbarer Ausdruck unmittelbarer Erfahrung – außer vielleicht für Nachtwey –, sondern ferne Zeichen einer uns zumeist verloren gegangenen Welt des Elends.

Darin liegt die Tragik der Arbeit eines James Nachtwey und zugleich unsere eigene Tragik. Wenn ich diese Worte schreibe, wie viele werden in der Zeit, in der ich schreibe, an Hunger zugrunde gegangen oder massakriert worden sein? Ich weiß es nicht, und meine Raum-Zeit-Perspektive ist eine andere als die derjenigen, die zugrunde gehen. Das ist das Tragische, Furchtbare, schier Unbegreifliche, das durch Bilder, Fotos oder Filme, wie sie Freis Kollege von Reuters, Des Wright, macht, nur punktuell, kurzfristig sichtbar und nur mittelbar erfahrbar wird. Unsere Welt teilt sich in existentielle Erfahrungshorizonte, die scheinbar nichts mehr miteinander zu tun haben.

Mögen die einen aus der sicheren Warte ihrer moralischen Besserwisserei einen James Nachtwey, der auf fast alle persönlichen Annehmlichkeiten, auf Familie, Ehe, Kinder, Geborgenheit und einiges mehr verzichtet hat (was er nicht hätte müssen), verurteilen, einen Mann, der sich immer wieder in eigene Lebensgefahr begibt und der nicht der erste wäre, der während seiner Arbeit umkommt. Wer mag schon beurteilen, was ihn dazu treibt, das Elend nicht einfach Elend sein zu lassen. Darin sehe ich die Bedeutung dieses Fotografen. Kriegsfotograf? Eher eine Art Versuch, Gewissen zu sein und zu haben.

War Photographer
(War Photographer)
Schweiz 2002, 96 Minuten
Regie: Christian Frei
Musik: David Darling, Eleni Karaindrou, Arvo Pärt
Kamera: Peter Indergand, Hanna Abu Saada
Fotos: James Nachtwey
Mitwirkende: James Nachtwey, Christiane Amanpour (Chefkorrespondentin CNN),
Hans-Hermann Klare (Ressortleiter Ausland »Stern«),
Christiane Breustedt (Chefredakteurin »Geo Saison«), Des Wright (Kameramann »Reuters«),
Denis O’Neill (Drehbuchautor, Nachtweys bester Freund)

Ulrich Behrens

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