Bürde der Freiheit

Die Ästhetik von „Manderlay“, die bereits im ersten Teil von Lars von Triers amerikanischer Trilogie „Dogville“ erprobt wurde, könnte man geradezu „undogmatisch“ nennen: Statt der vom Dogma-Manifest geforderten authentischen Settings und des Verzichts auf künstliche Requisiten, sehen wir nun extrem vereinfachte Kulissen, die an eine Theateraufführung erinnern und ihre Künstlichkeit eher betonen als leugnen. Die konsequente Abkehr von der Idee, die Realität in all ihrer äußeren Flüchtigkeit abzubilden, ermöglicht hier aber die Konzentration auf die komplexen Sinnzusammenhänge und Tiefenstrukturen, die das Leben fast unsichtbar bestimmen. Von Triers Rechnung geht auf: Was für sich keine oberflächliche „Lebensänlichkeit“ beansprucht, wirkt um so glaubwürdiger in der Vermittlung der inneren Wahrheit.

Schon zu Beginn des Films hören wir den Vater der noch aus „Dogville“ bekannten Grace (die in „Manderlay“ allerdings ein neues Gesicht bekommt), einen zynischen, aber weltmännischen Gangster der alten Schule, sich ironisch über die Natur der Frauen auslassen, die, wie er feststellen muss, trotz der fortschreitenden Zivilisation und Aufklärung nicht davon abzubringen sind, an den Unterwerfungsphantasien ihren Gefallen zu finden. Das Motiv der Skepsis gegenüber den vernunftgeleiteten Strategien der Weltveränderung bzw. -verbesserung ist hiermit eröffnet, wobei sich Triers Problemstellung nahtlos in jene philosophische und literarische Tradition einfügt, die von der Dichotomie „triebhafte Natur vs. logische Vernunft“ ausgeht. Allen voran wird Dostojewski in Erinnerung gerufen, dessen Gestalten in der Ausführung ihrer rationalen Projekte permanent von den dunklen Mächten des Unbewussten gehindert werden, das allein durch eine tiefe Religiosität geläutert werden kann. Aber gerade diese spirituelle Umkehrung des Negativen würde heute etwas aufgesetzt wirken, deshalb muss ein moderner Film, der sich diesem Thema zuwendet, auch viel pessimistischer wirken, da er dem zerstörerischen Unbewussten eigentlich nichts Konstruktives, außer der immer wieder versagenden Vernunft, entgegenzusetzen vermag. Und doch liegt gerade in dieser äußersten Hoffnungslosigkeit, die uns von Trier vor Augen führt, jener spirituelle Hoffnungsschimmer, den wir auch bei Dostojewski erleben: Der eindringlich inszenierte Zusammenbruch aller Hoffnung lässt uns besonders intensiv nach neuen Hoffnungsquellen suchen, was von Triers Filmen wiederum beinah eine eigene religiöse Dimension verleiht.

In „Manderlay“ wird der Konflikt zwischen Vernunft und Trieb scheinbar ganz direkt an der Beziehung zwischen der jungen, intelligenten Grace (Bryce Dallas Howard) und den sich in die Sklaverei zurücksehnenden Einwohnern des Örtchens Manderlay veranschaulicht. Doch erweist sich der vermeintlich irrationale Wunsch, sich wieder einer strengen Instanz zu unterwerfen, zunehmend als logisch begründet, da das alte „Mam’s Gesetz“, das von ehemaligen Sklaven immer noch ehrfürchtig verehrt wird, die Eigenschaften der menschlichen Natur viel differenzierter berücksichtigte, als es Grace in ihrer blinden Fortschrittsgläubigkeit vermag. Aber auch Grace gibt sich fast unfreiwillig erotischen Fantasien hin, in denen es um Gewalt und Unterwerfung geht. Es liegt eine bittere Ironie darin, dass Demokratie, die Grace mit hellem Enthusiasmus in Manderlay aufzubauen versucht, nur mit Hilfe von bewaffneten Gangstern aufrechterhalten werden kann. Jede Form von sozialer Organisation erfordert also einen Zwang. Das ist die pessimistische Erkenntnis, die der Film transportiert, und er fügt gleich eine zweite hinzu: Der Mensch empfindet gegen diesen Zwang nicht nur verständlichen Widerwillen, er findet auch noch Gefallen daran. So verwandelt sich die Revolte gegen die Unterdrückung in den Kampf gegen die eigenen Lustgefühle…

Lars von Trier versetzt die Handlung seiner betont klassisch inszenierten Tragödie in das Jahr 1933 und verleiht der Plantage Manderlay darüber hinaus archaische Züge, die noch weiter in die Geschichte zurückverweisen. Die Bezüge zur Gegenwart sind aber trotzdem sehr intensiv. Wie die aktuellen Ereignisse in New Orleans und neulich auch in Frankreich gezeigt haben, ist das koloniale Erbe des Westens immer noch nicht vollständig überwunden. Und das heißt, dass solche Ortschaften wie Manderlay, in denen die Unterdrückung nach dem Rassenprinzip trotz der gültigen Rechtslage weiter fortbesteht, kein Kuriosum sind, sondern tatsächlich parallel zu unserer Wirklichkeit existieren oder gar längst darin einen festen Platz bekommen haben.

Manderlay
(Deutschland/Dänemark/Schweden 2005)
Regie: Lars von Trier, Buch: Lars von Trier, Ton: Kristian Eidnes Andersen, Ad Stoop, Marten Negenman, Kamera: Bodil Kjærhauge, Molly Stensgård
Darsteller: Bryce Dallas Howard, Isaach De Bankolé, Willem Dafoe, Lauren Bacall u.a.
Länge: 139 Minuten
Verleih: Legend Films (Neue Visionen)

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