»Dieses mal heißt er Andreas Winkelmann.«

Zwischen 1968 und 1969 entstehen vier Filme aus der Feder Ingmar Bergmans, in denen er das Verhältnis von Erzählung und Darstellung aufeinander bezieht. „Die Stunde des Wolfs“ (1968), „Schande“ (1968), „Ritus“ (1969) und schließlich „Passion“ (1969) erzählen ihre Geschichte selbstreflexiv, beziehen den filmischen Erzählprozess in die Diegese mit ein – entweder durch stark selbstreflexive Ästhetiken wie bei „Schande“ und „Ritus“ oder durch das Überlappen von Produktionskontext und Filmnarration. „Die Stunde des Wolfs“ begann mit Schwarzfilm, zu dem die Regieanweisungen Bergmans zu hören waren und fuhr fort mit einer Aufnahme von Liv Ullmann, die – direkt in die Kamera blickend – die Erzählsituation des Films zu kommentieren begann. „Passion“ geht hierin noch einen Schritt weiter: Er unterbricht seine Erzählung und lässt die beteiligten Schauspieler über ihre Rollen und Figuren reflektieren.

Andreas Winkelmann (Max von Sydow), so erklärt uns ein Off-Kommentator, lebt zurückgezogen und von seiner Frau getrennt auf einer Insel. Eines Tages taucht eine Frau (Liv Ullmann), die sich ihm als Anna Fromm vorstellt, bei ihm auf, und fragt, ob sie bei ihm telefonieren darf. Andreas belauscht das Gespräch und stellt fest, dass Anna große Probleme hat. Zudem entdeckt er in ihrer in seiner Wohnung vergessenen Handtasche den Abschiedsbrief ihres Mannes, der von enormen psychischen und physischen Qualen in der Ehe mit Anna berichtet. Einige Zeit später lernt Andreas das Ehepaar Eva (Bibi Andersson) und Elis Vergerus (Erland Josephson) kennen. Elis ist Architekt und Fotograf, der viel in der Welt herum reist, sich aber lediglich mit Zynismus über alles zu äußern weiß; Eva lebt während Elis‘ Abwesenheit allein, trifft sich mit ihrer besten Freundin Anna Fromm und betrügt Elis mit anderen Männern (zu denen auch bald Andreas zählt). Über einen Besuch bei dem Ehepaar bekommt Andreas wieder Kontakt zu Anna und erfährt, dass ihre gesamte Familie bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, den auch Anna nur schwer verletzt überlebt hat. Nach einem kurzen amourösen Intermezzo mit Eva geht Andreas eine Beziehung mit der Witwe Anna ein, die ihren Weg von Liebe und Zuneigung über schweigende Toleranz und latente Agression bis hin zu physischer Gewalt geht.

Ingmar Bergmans Filme sind das, was landläufig als „Problemfilme“ bezeichnet wird. Zumeist geht es darin um schwere existenzielle und emotionale Krisen. Bergman analysiert die Figuren, die sich in diesen Beziehungen befinden oder sich auf diese Beziehungen einlassen mit einer psychologischen Schärfe wie sie im Nachkriegsfilm ihresgleichen sucht. Oft paart sich zu den persönlichen Dramen eine philosophische Grundhaltung, die man im weitestens Sinne als „Existenzialismus“ bezeichnen könnte. Die „Sinnlosigkeit der Existenz“ wird von den Figuren als bedrohlich und unüberwindbar erfahren – sie schlägt sich nieder in ihrem Verhalten und im Umgang miteinander. Das zentrale Thema von „Passion“ ist die Lebenslüge. Sie maskieren ihre Ängste und Sorgen mit Schutzbehauptungen und verklären ihre Vergangenheit. Vor der Zukunft kapitulieren sie allesamt, mit echten moralischen Problemen sind sie nicht – außer im Modus der Gewalt – umzugehen im Stande.

An Anna Fromm (und deshalb heißt der Film in der US-Fassung wohl auch „The Passion of Anna“, obwohl die Erzählung „hinter“ Andreas Winkelmann steht) zeigt sich diese Struktur am deutlichsten: Während sie ihre Ehe mit ihrem verstorbenen Mann auf eine weise idealisiert, die der Heiligsprechung nahe kommt, wissen alle um sie herum, dass sie lügt. Der Zuschauer bildet hiervon keine Ausnhame: Während oder kurz nach Annas überschwenglichen Ausführungen über ihre ehemalige Liebe bekommen wir immer wieder die Zeilen des Abschiedsbriefes ihres verstorbenen Ehemanns zu lesen. Andreas Winkelmann, der um die Lügen Annas am deutlichsten weiß, geht schließlich sogar so weit, dass er ihre Fantasieberichte für Schutzbehauptungen hält, weil er glaubt, sie haben den Autounfall absichtlich herbeigeführt, nachdem sie den Abschiedsbrief ihres Mannes gefunden hat. Dsa Ideal sollte um jeden Preis aufrecht erhalten werden.

Die einzig authentische Figur des Films, ist gleichzeitig die, die auch die einzigen „echten“, nicht selbst herbei geredeten Probleme hat. Der alte Verner (Sigge Fürst) wird von den Bewohnern der Insel verdächtigt, Tierquäler zu sein. So absurd er die Anschludigungen findet, fürchtet er sich doch vor der Rache der Insulaner, die ihn schließlich auch ereilt. In einem Fanal der Brutalität wird Verner gequält und sieht hernach als einzige Möglichkeit den Selbstmord – mit der Schande und Erniedrigung kann er nicht weiter leben, schreibt er seinem einzigen Freund Andreas im Abschiedsbrief. „Ich kann nun keinem Menschen mehr in die Augen sehen.“ Dass Bergman hier selbst geschaffene und fremdgeschaffene Probleme aneinander kontrastiert, dass er Andreas‘ inauthentische Seinsweise der Schande Verners gegenüberstellt, ja, dass Verner ausgerechnet ihm schreibt, er könne nun keinem Menschen mehr in die Augen sehen, benennt den eigentlichen Skandal des Films. Angesichts der Katastrophe von Folter und Selbstmord müssten Andreas‘ und Annas Probleme eigentlich verblassen – sie katapultieren sich aber im Gegenteil ins Extrem.

Als Andreas mit der Axt auf die ihn wütend beschimpfende Anna losgeht, bekommen die Beziehungsprobleme der beiden eine neue Qualität. Die Gewalt, die latent über der ganzen Insel geschwebt hat, scheint mit dem Tod Verners entfesselt zu sein. Die Ereignisse überschlagen sich: Ein Pferdestall brennt, weil jemand ein Pferd mit Bezin übergossen und angezündet hat, das dann wie eine rennende Fackel umhergelaufen ist und das Inferno ausgelöst hat. Andreas eilt zum Tatort und Anna folgt ihm, um sich mit ihm zu versöhnen. Doch die Atmosphäre lässt eine solche Geste nicht mehr zu. Es kommt zur finalen Konfrontation und Trennung. Der Film schließt mit den Worten: „Dieses mal hieß er Andreas Winkelmann.“

Die „Mikrophysik der Gewalt“, die Bergman in seinem Drama untersucht, basiert im Wesentlichen auf drei Fundamenten: Zum einen sind es die wohl austarierten und inszenierten Dialogsequenzen zwischen den verschiedenen Protagonisten, die einerseits deren Probleme definieren, andererseits deren Beziehungen zueinander etablieren und manifestieren. Unausgesprochen wird klar, dass Elis Vergerus eine dominante Vaterfigur für alle Beteiligten darstellt, dass Eva Vergerus die Rolle einer sich selbst unterdrückenden Hausfrau zugeschrieben wird, dass Anna eine sich selbst belügende Idealistin ist. Das zweite Fundament bilden die eingangs erwähnten Schauspielerkommentare. Es ist nicht klar, inwiefern die Analysen von Sydows, Ullmanns, Josephsons und Anderssons echt sind oder ebenfalls der Feder Bergmanns entstammen. Es soll jedoch evoziert werden, dass sie die eigentliche Erzählung des Films nicht beeinflussen – eine Filmklappe trennt die Sequenzen voneinander. In den Kommentaren versuchen die Darsteller die Rollen und die Figuren zu interpretieren. Sie bieten dabei genau die Deutungen an, die hier vorgestellt wurden. Der selbstreflexive Effekt, den der Film durch diese Sequenzen bekommt, verdeutlicht den intellektuellen Impetus Bergmans, der nicht einfach „naiv“ eine Geschichte über Beziehungsgeflechte erzählen wollte.

Das dritte Fundament – und das scheint der subtilste Aspekt des Films zu sein – ist der situative Kontext der Erzählung: die Insel. Immer wieder bekommen wir die Figuren in den verlorenen, vereisten Weiten, den entlaubten, kargen Wäldern, im Morast, im Dreck steckend zu sehen. Einmal aus der zwar ebenfalls unbehaglichen doch keineswegs lebensfeindlichen Umgebung ihrer Häuser entlassen, werden die Menschen zu Opfern der Natur. In analytischen Vogelperspektiven, Total- und Panoramaaufnahmen zeigt uns Kameramann Sven Nykvist immer wieder die Verlorenheit und Bedrohung der Menschen in der Natur, wo er zuvor das „Zuviel“ an Nähe durch besonders nahe Einstellungen vermittelt hat. Das Gefühl des Eingesperrtseins (das Andreas Anna gegenüber einmal beim Namen nennt, als sie den Wunsch äußert, mit ihm zu verreisen) wird in diesen Bildern konkret: Wie in den Häuserinneren der psychische Tod lauert, lauert draußen der physische. Alle Außenaufnhamen sind daher konsequent mit „Zerstörung“ assoziiert: Von den toten und gequälten Tieren über das Zerhacken von Holz (dem der Axtangriff auf Anna folgt) bis hin zu dem im Morast untergehenden Zugwagen Verners – Bilder der Zerstörung.

„Passion“ ist damit ein äußerst stimmiger und intelligenter Film Bergmans, der zu Unrecht kaum Erwähnung (d. h. „Ausstrahlung“ in den zyklischen Werkübersichten des Fernsehens) findet. Dass Kinowelt nun dieses Werk auf DVD veröffentlich, verschafft dem Film vielleicht endlich die Aufmerksamkeit, die er und die vier (oben erwähnten) Filme aus dieser „Kurzphase“ verdienen. „Die Stunde des Wolfs“ ist ja bereits im Ausland auf DVD erschienen und es bleibt zu hoffen, dass dieser einzige „Horrorfilm“ Bergmans auch den Weg auf den deutschen Markt findet. Die Aufmachung der Kinowelt/Arthaus-DVD von „Passion“ ist leider etwas spartanisch ausgefallen: Neben den spärlichen Extras (zwei Text-Ergänzungen) stellt vor allem das Fehlen des Originaltons im Verbund mit deutschen Untertiteln einen echten Mangel dar, da zum einen der authentische Gestus (während der Kommentar-Sequenzen der Schauspieler) dadurch an Effektivität einbüßt, zum anderen, weil das Schwedische einfach zu der Landschaft und den Themen des Films „dazu gehört“ – ein Effekt, von dem man sich leicht bei der Sichtung der ARTE-Ausstrahlung des Films vor ein paar Jahren überzeugen konnte.

Passion
(En Passion, Schweden 1969)
Regie und Buch: Ingmar Bergman, Kamera: Sven Nykvist, Schnitt: Liv Lundgren
Darsteller: Max von Sydow, Liv Ullmann, Erland Josephson, Bibi Ansersson u.a.
Länge: 101 Minute
Verleih: Kinowelt/Arthaus
Preis: 13,99 Euro
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