Die große Desillusion

Wie gering doch die Halbwertzeit von manchmal Filmkritiken sein kann, zeigt die filmdienst-Besprechung zu Marco Ferreris „Das große Fressen“. In ihr wirft der Rezensent dem Film vor: „Ferreris umstrittenes Bild einer Konsum-Orgie, in Details überdeutlich und schockierend, insgesamt jedoch zu wenig reflektiert und verbindlich, um wirklich aufrütteln zu können. Die Allegorie auf eine nur am Konsum orientierten Gesellschaft geht in der vordergründigen Inszenierung unter.“ Aus der Distanz von über zwanzig Jahren stellt sich der Film und seine Stoßkraft ganz anders dar: Ferreris Film ist ein Sinnbild westlichen Lebensstils zu Beginn der 1970er Jahre. Dieser scheint im Rückblick – speziell auf Ferreris Film – weniger der Dekadenz zu huldigen als eine Sinnstagnation an der Zeitenwende des Ideologieverlustes zu bebildern.

Die vier Freunde Marcello (Marcello Mastroianni), Ugo (Ugo Tognazzi), Michel (Michel Piccoli) und Phillipe (Philippe Noiret) beschließen zu sterben. Hierzu quartieren sie sich in einem alten Anwesen ein, lassen sich Lastwagen-weise Lebensmittel anliefern und beginnen sich totzufressen. Da es vor allem Marcello ohne Abwechslung bald zu langweilig wird, laden die Sterbewilligen ein paar Prostituierte und die Lehrerin Andrea (Andréa Ferrol) der nahegelegenen Grundschule ein, aus ihrer Schlemmerorgie eine richtige Orgie zu machen. Die Professionellen fühlen sich nach kurzer Zeit von der Dekadenz der Männer angewidert und verlassen das Anwesen. Andrea, die sich mittlerweile mit Phillipe verlobt hat, begleitet die Männer nun allein auf ihrem Weg in den Tod, den einer nach dem anderen systematisch ansteuert und erreicht.

Ferreris Film zieht an und stößt ab gleichermaßen. Sind die vornehme Dekadenz, die Liebe zur Küche und zum Essen, die zwanglose Ausgelassenheit der ersten zwei Drittel fast beneidenswert, so stößt der Untergang der vier Männer im letzten Drittel umso mehr ab. Die anfängliche Unnahbarkeit und das großbürgerliche Gehabe kippen zusehends in Larmoyanz, als sich zu den charakterlichen Eigenheiten der Männer körperliche Unpässlichkeiten gesellen. Der Film entlarvt auf diese Weise das Vorhaben als das, was es ist: Irrsinn. Doch scheint eine allzu realitätsnahe Lesart von „Das große Fressen“ dem Werk Unrecht zu tun – geht es doch nur oberflächlich um den Lebensekel, der in der Orgie seinen Ausdruck durch Übertreibung findet. Ferreris Film scheint – und darauf deuten die Alltagsrollen der vier Freunde hin – viel dringlicher als ein Bild des gesellschaftlichen Umbruchs, der Umwertung aller Werte gelten zu müssen.

So wird vor allem der im „normalen Leben“ als Richter arbeitende Phillipe als ein verweichlichter, durchsetzungsunfähiger Mann mit Ödipuskomplex dargestellt. Von der moralischen Rolle, die er in seinem Alltag spielt, ist er bei der Orgie denkbar weit entfernt. Nicht nur kümmern ihn die Verfehlungen seiner Freunde nicht – auch als Andrea es in seinem Beisein bunt mit den anderen Männern treibt, ist er um der Ruhe willen eher geneigt, darin einen philantropischen Akt ihrerseits zu sehen. Der auch im richtigen Leben als Koch fungierende Ugo zeigt sich vom eigetlichen Sinn seines Berufes zusehends angeekelt: Die Gäste seien es nie wert gewesen, von ihm bekocht zu werden. „L’art pour l’art“ ist sein Können – dessen Vernichtung durch Verspeisung wird für ihn zu einem finalen Akt gegen den Berufsethos.

„Das große Fressen“ entsteht zu einer Zeit, zu Beginn der 1970er Jahre, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass die zahlreichen politischen und kulturellen Revolten nach und nach vom Kapitalismus absorbiert, entschärft und in lukrative Lifestyles umgeformt werden. Bevor Marcello sich in die Orgie begibt, trifft er auf seine Nichte, der er seine Wohnungsschlüssel übergibt, damit sie mal richtig Party machen kann. Dass er mit ihr konspiriert, ließe sich unter dieser Prämisse als (s)ein überkommener Idealismus lesen, zumal das Mädchen ihrem Onkel, kurz bevor dieser abreist, noch einen Tänzer vorstellt, dem der Onkel einen Job verschaffen soll. Die einstmals brotlose Kunst soll Gewinn abwerfen; die jugendliche Rebellion, die am Beginn der Disco-Ära nur noch ein Krieg der Stile ist, soll ihren Ort bekommen. Die einstige sinnlose – und in dieser Sinnlosigkeit werthinterfragende – Ziellosigkeit wird gerät zur Dekadenz.

Ferreris Film ist ein Film über die Dekadenz – aber eben nur in dem Maße, wie diese Dekadenz das Ergebnis einer gescheiterten Revolte ist, die ihr Scheitern (man denke an Camus‘ Sisyphos-Mythos) nicht mehr annehmen kann. Die vier Suizidanten, allesamt von großen alten Herren der europäischen Schauspielkunst verkörpert, bilden den Reflex dieser gesellschaftlichen Erscheinung im kleinen, in der Villa ab. Sie amüsieren sich zu Tode – ganz so, wie es die Gesellschaft außerhalb auch tut. Ferreris Films ist in der Rückschau ein erschreckend luzides Statement über diesen gesellschaftlichen Wandel der westlichen Gesellschaften.

Das große Fressen
(La Grande bouffe, Italien/Frankreich 1973)
Regie: Marco Ferreri, Buch: Rafael Azcona, Francis Blanche, Marco Ferreri, Musik: Philippe Sarde, Kamera: Mario Vulpiani, Schnitt: Claudine Merlin, Gina Pignier
Darsteller: Marcello Mastroianni, Ugo Tognazzi, Michel Piccoli, Philippe Noiret, Andréa Ferréol u.a.
Länge: 135 Minuten
Verleih: Kinowelt

Die DVD von Kinowelt:

Bild: 1,66:1 (anamorph)
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch (Mono Dolby Digital)
Untertitel: Deutsch
Extras: Interview mit Andréa Ferréol, Trailer
FSK: ab 16 Jahren
Preis: 14,99 Euro
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