Nicht jede Träne ist von Übel

Der Epos „Herr der Ringe“ ist mit dem dritten Teil „Die Rückkehr des Königs“ abgeschlossen. Peter Jacksons Trilogie wird wieder einmal ein begeistertes Publikum und ziemlich ratlose Filmkritiker hinterlassen. Denn es schreibt sich schwer über einen Film von insgesamt über neun Stunden Länge mit dutzenden Figuren und Erzählungen der noch dazu im Phantasy-Genre angesiedelt ist. Zu sehr drängt sich einem das Parabelhafte der Erzählung auf und rückt diese selbst damit in die Nähe des reinen Vorwands. Ein anderer Ansatz wäre die vergleichende Lektüre mit dem Roman, die jedoch dem Film nicht gerecht werden kann, weil sie zu oft das Filmische unberücksichtigt lässt. Wie also diesem Film beikommen, von dem die Nacherzählung schon schwieriger ist als die Interpretation so manches anderen Films?

Die Reise der Gefährten nähert sich ihrem Ende. Ein letztes Mal bedroht Sauron die Menschheit – sein Heer hat Minas Tirith angegriffen, die Hauptstadt von Gondor. Nur ein schwächlicher Truchsess wacht noch über das einst mächtige Königreich, das seinen König nie dringender benötigte als jetzt. Doch bringt Aragorn die Kraft auf, jene Aufgabe zu übernehmen, für die sein Schicksal ihn bestimmt hat? Während Gandalf verzweifelt versucht, die mutlosen Kämpfer von Gondor zu motivieren, sammelt Théoden die Krieger von Rohan, um am Kampf teilzunehmen. Aber obwohl sie tapfer und leidenschaftlich Widerstand leisten, haben die Streitkräfte der Menschen – unter denen sich Eowyn und Merry verbergen – dem überwältigenden Ansturm der feindlichen Legionen gegen das Königreich kaum etwas entgegenzusetzen. Jeder Sieg fordert große Opfer. Trotz der starken Verluste stellen sich die Gefährten der größten Schlacht ihres Lebens – vereint durch ein einziges Ziel: Sauron muss so lange abgelenkt werden, bis Frodo seine Mission erfüllen kann. Auf seinem Weg durch trügerisches Feindesland ist Frodo immer mehr auf Sam und Gollum angewiesen, während Der Ring ständig seine Treue und letztlich auch seine Menschlichkeit auf die Probe stellt.

Der Film geht – das zeigt die Handlungsübersicht – in medias res. Überhaupt ist die Frage, ob man es bei den jeweiligen Teilen vom Herrn der Ringe mit „einem“ Film zu tun hat, nicht uninteressant: Auf der Oberfläche hat jeder Teil für sich eine klar strukturierte Dramaturgie, eine zentrales Ereignis (meist eine Schlacht) und wird durch Titel gerahmt. Verständlich ist jeder Teil für sich jedoch nicht ohne die anderen – ja, selbst der Auftakt „Die Gefährten“ ergibt hermeneutisch erst Sinn, wenn man die ganze Trilogie kennt. Aber eine Trilogie sind die Filme dann auch wiederum nicht, denn sie sind weder Serie noch Reihe. Der Herr der Ringe ist „ein“ Film und als solcher eher mit einem mehrteiligen Epos oder besser noch mit einer in Sätze aufgeteilten Symphonie vergleichbar (mit ziemlich langen Pausen dazwischen):

Die Musikalität entbirgt sich fast in jedem narrativen Detail der drei Filme: Fast immer haben wir wenigstens drei Handlungsstränge, die verfolgt werden, die sich am Anfang der jeweiligen Erzählungen entflechten, auseinanderlaufen, einander aber weiterhin beeinflussen und zum Ende wieder verflochten werden. Über alle drei Filme lässt sich diese Struktur der anfänglichen Einheit, der Ausweitung und der schließlichen Engführung beobachten (interessant wäre es hier tatsächlich einmal die Theorie der Fuge zu bemühen, um die Erzähl-„Komposition“ zu skizzieren). Gekonnt und immer im rechten Moment, wendet Erzähler Jackson sein Augenmerk von einem Handlungsmoment ab und einem der anderen zu, steigert dabei stetig den Rhythums (und damit die Dramatik), bis er alles in einem Crescendo explodieren lässt.

Im Zusammenhang mit dem Herrn der Ringe wurde Peter Jackson oft als „Schauspieler-Regisseur“ bezeichnet, was wohl bedeuten soll, dass er – etwa im Gegensatz zu jemandem wie Stanley Kubrick – mit den Darstellern umzugehen versteht, sie dazu bringt, seine eigene Interpretation der jeweiligen Figuren wiederzugeben. Dem Genre des Fantasy-Films ist es zu schulden, dass die Figuren hier streng archetypisch aufgeteilt sind: Die Bösen, die Guten, die Starken, die Schwachen, ja, sogar die Ambivalenten sind in Der Herr der Ringe feste Rechengrößen. Dies zeigt sich im dritten Teil des Films besonders deutlich an der Dreiergruppe Frodo-Sam-Gollum/Smergol. Auch Frodo ist ein vom Ring verführter, Sam kann den Reizen ebenfalls nicht wiederstehen und von Smergol, dessen Bösartigkeit der Schluss des zweiten Teils nahe gelegt hat, bekommen wir wieder Szenen des Zweifelns und Zauderns zu sehen. Alles drängt in diesen Figuren auf eine eindeutige Position hin, die sich am Ende des Films auch erfüllt (überhaupt scheint Der Herr der Ringe als Nebenprojekt die Stabilisierung seiner Figuren im Augen zu haben). Die Schauspieler müssen für die archetypische Darstellung einiges an Können zurückstecken, um der zeitweiligen Eindimensionalität der Figuren gerecht zu werden. Doch erhalten sie gerade als Figuren innerhalb des größeren Zusammenhanges der Erzählung wie die Instrumente im Orchester ihre Gültigkeit zurück: Tatsächlich erfüllen sie alle einen Zweck, der erst im Gesamtzusammenhang wirkt.

Der subtile Takt ergibt sich in allen drei Filmen durch die Musik von Howard Shore. Sie signalisiert den Wechsel zwischen den Handlungsteilen, schafft die Atmosphäre der einzelnen Erzählstränge, untermalt jede Figur mit einem eigenen Thema (das durch die Stimmungen und Situationen, in denen sich die Figur befindet, variiert wird) und sorgt vor allem in Die Rückkehr des Königs für überbordenden Pathos. Davon hat der letzte Teil der Erzählung weit mehr als seine Vorgänger zu bieten. Natürlich, nachdem die Gefahren überstanden und das Happy End erreicht ist, stimmt Shore warme Harmonien und Takte voller Freude und Erleichterung an. Alles wird lichter und bei der Siegesfeier und Inthrnonirung Aragorns kann man sich nur schwer dem Pathos entziehen (Tränen!). Das „klingt“ zunächst nach einem zwar guten, aber normalen Soundtrack und doch leistet Shore mehr, was sich gerade im Vergleich der einzelnen Soundtracks aller drei Teile zeigt: Er verhilft der wirklich langen Geschichte zu einer Geschlossenheit und Kohärenz, die das Wiedererkennen der Figuren, Geschichten und Situationen unterstützt – wohlgemerkt: Neun Stunden lang!

Doch gerade aus der Länge der einzelnen Filme und des Gesamtwerks ergibt sich ein Wehrmutstropfen: Dadurch, das sich Die Rückkehr des Königs seinen Zuschauern als autarker Film aufdrängt, wirkt gerade der Schluss zu gestreckt und das Hyppy End endlos (pathetisch). Sicher: Aus der Perspektive aller drei Teile ist die Coda von fast 20 Minuten Länge genau richtig proportioniert. Doch zum Einen liegt zwischen den Sehereignissen im schlimmsten Fall ein Jahr; zum Anderen wird man sich bei einer Gesamtlänge von über 9 Stunden den „ganzen Film“ sicherlich nie am Stück anschauen – und damit die Länge dieses Ausklangs verstehen. Aber dieses Problem ergibt sich auch nur aus „filmdramaturgischer“ Sicht. Die Erzählung selbst verlangt gerade durch ihre Pomposität und durch die visuellen Eindrücke (im dritten Teil zieht Jackson alle Register: Alle Monster der Vorfilme tauchen wieder auf und auch die so zentralen Schlachten sind größer als die vorigen) nach einem Ende, das nicht in einem finalen Bild gipfelt (Marke „Ende gut, alles gut“). Die Figuren werden von Jackson zurück in ihre Normalität geführt. Die Helden – allen voran natürlich die Hobbits – werden wieder zu Bauern, zu kleinen Figuren in ihren sozialen Zusammenhängen. Diese Behandlung verträgt nicht jeder von ihnen und das muss gezeigt werden.

Bleibt zum Schluss die Frage, in welchem Zusammenhang man Der Herr der Ringe sehen kann oder muss. Sicherlich hat Peter Jackson mit diesem Film das Fantasy-Genre revolutioniert. Der bis dahin als „unverfilmbar“ geltende Roman Tolkiens hat mit den drei Filmen bzw. dem Film eine weitere Variante der Rezeptionsgeschichte erfahren (indes: „verfilmt“ worden ist er nicht, dazu ist das Werk Jacksons zu autonom). Neben den Adaptionsversuchen zählen die etlichen um die Mythologie Mittelerdes vom Autoren und den Fans „herumgesponnenen“ Nebenerzählungen genauso wie die seit Erscheinen der Romane angstrengten Versuche der Interpretation (jüngstes Negativbesipiel wäre hier die ideologiekritische Auseinandersetzung von Guido Schwarz) zu dieser Rezeptionsgechichte. Sie fügen dem Denken über Der Herr der Ringe alle etwas hinzu und zeigen, dass selbst 50 Jahre nach dem Erscheinen der Bücher noch längst nicht das letzte Wort darüber gesprochen ist. Sicherlich wird Jackson in dieser Hinsicht auch nicht den finalen Beitrag gefilmt haben. Derzeit muss er aber sowohl auf ökonomischer als auch technischer als ein Endpunkt angesehen werden. Ob er in der Lage ist, das Fantasy-Genre zu einem späten Ruhm und vielleicht sogar zu einem Erwachen aus dem Dornröschenschlaf zu versetzen, bleibt zu hoffen.

Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs
(The Lord of the Rings – The Return of the King, USA/Nz 2003)
Regie: Peter Jackson; Buch: Frances Walsch nach J. R. R. Tolkien; Kamera: Andrew Lesnie
Musik: Howard Shore; Darsteller: Elijah Wood, Liv Tylor, Viggo Mortensen, Ian MacKellen, Sean Astin u. a.
Verleih: Warner Bros, Länge: ca. 200 Minuten

Stefan Höltgen

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