Opiumhöhle und ästhetisches Asyl

»I’m in the front row with popcorn.
I get to see you – close up.«
(Alanis Morrissette)

Der französische Philosoph Michel Foucault zählt das Kino, jenen „merkwürdigen, viereckigen Saal, in dessen Hintergrund man auf einem zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen Raum sich projizieren sieht“ (2002:42, Übersetzung leicht abgeändert), zu den Heterotopien. Mit diesem Begriff bezeichnet er eine eigentümliche Klasse von Orten, die im sozialen Ordnungsgefüge, das auch und vor allem ein Gefüge von Räumen ist – Foucault spricht von „Plazierungen“ (ebd. 38) –, eine präzise Funktion wahrnehmen, diese Funktion aber zugleich transzendieren und damit unerwartete Effekte produzieren. Heterotopien haben mithin „die sonderbare Eigenschaft […], sich auf alle anderen Plazierungen zu beziehen, aber so, daß sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren“ (ebd.) Inwiefern der Kinosaal ein solcher Ort ist, wird bei Foucault nur angedacht. Die Heterotopologie, die Analyse der Heterotopien, wird von ihm nur mit groben Pinselstrichen skizziert. Ausgeführt hat er dieses Programm selbst nicht.

Im Folgenden soll die Foucaultsche Lesart des Kinos näher in den Blick genommen werden. Hilfreich ist dabei die Anknüpfung an die kulturkritische Analysen des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adornos, in dessen Schriften zwei unterschiedliche Auffassungen des Kinos miteinander verklammert sind: Einerseits – so die kulturpessimistische Diagnose – erscheint der Film tout court als Medium der Manipulation, als ein am Fließband produziertes Sedativ, das den Einzelnen qua Unterhaltung als Konsumenten ruhigstellen soll, mithin eine besonders perfide Form von ‚Opium fürs Volk‘. In dieser Perspektive ist der Kinosaal eine Stätte gesellschaftlicher Integration, Homogenisierung und Nivellierung, eine kulturindustrielle ‚Opiumhöhle‘, in der sich ein organisierter „Massenbetrug“ (GS 3, 141) (1) mit dem Ziel gesellschaftlicher Entmündigung vollzieht. Andererseits kann der Kinosaal auch ein ästhetisches Asyl sein, in dem Zuschauer sich gerade durch das ‚Klangbildgeschehen‘ Kino – zumindest zeitweise – aus dem gesellschaftlichen Integrationszusammenhang gleichsam herausreißt. Der Kinobesuch wird zum „entspannte[n] sich Überlassen an bunte Assoziation und glücklichen Unsinn“ (ebd. 164). An dieser Stelle gewinnt der sensible Ästhetiker die Oberhand über den Kulturkritiker. Interessanterweise finden sich diese anderen, leiseren Töne, die eine alternative Sichtweise des Kinos nahe legen, zwischen den Zeilen der oben skizzierten Kulturkritik. Insbesondere die Verschränkung dieser beiden Auffassungen (es handelt sich keineswegs um zwei distinkte Denkphasen bei Adorno!) zeigt, daß das Kino in kulturwissenschaftlicher Perspektive ein schillerndes Objekt ist, und kann – so die hier vertretene These – die ‚Lektüre‘ des Kinosaals als einer Heterotopie stützen und illustrieren. Der vorliegende Text ist demnach wie folgt strukturiert: Zuerst werden die beiden von Adorno formulierten Auffassungen des Kinos im Detail dargestellt und an Beispielen erläutert und dann, in einem zweiten Schritt, in ihrer Verschränkung, auf das Konzept der Heterotopie zurückbezogen.

„In der Fabrik, im Kino und im Kollektiv“:
Der Kinosaal als gesellschaftliches Sammellager
(Adorno I)

Mit dem viel zitierten Schlagwort „Kulturindustrie“ umschreibt Adorno den Umstand, dass Kulturerzeugnisse in unserer Gesellschaft vor allem für den Markt konzipiert sind und dementsprechend Marktregeln gehorchen müssen. Ihre (innerästhetische) Autonomie büßen sie unter dem Diktat kapitalistischer Warenlogik ein. Dies gilt in besonderem Maße für den Film, den „zentralen Sektor der Kulturindustrie“ (GS 10/1, 339), der ja schon industriell, das heißt arbeitsteilig und in Massenproduktion, gefertigt wird und sich, um ökonomisch bestehen zu können, am Massengeschmack ausrichtet. Der Film ist folglich eine „traumlose Kunst fürs Volk“ (GS 3, 146).

Das Fatale an der Kulturindustrie ist nun – so die These Adornos –, dass sie den Massengeschmack, bevor sie ihn befriedigt, zuallererst überhaupt erschafft. Die Filmindustrie schaut nicht dem Volk ‚aufs Maul‘, sondern konstruiert den idealen Konsumenten, den es nach ihren Produkten, idealtypisch den Blockbustern, dürsten soll. Indem der Konsument nun den Bedürfnissen, die er zu haben hat, im Kino konfrontiert wird, wird seine Wahrnehmung gleichsam ‚vorformatiert‘: „Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet.“ (ebd. 147) Kinobesuch und Weltwahrnehmung verschränken sich gleichsam: „Die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt, weil dieses selber streng die alltägliche Wahrnehmungswelt wiedergeben will, ist zur Richtschnur der Produktion geworden. Je dichter und lückenloser ihre Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, umso leichter gelingt heute die Täuschung, dass die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt.“ (ebd.) Das von Adorno hier ins Spiel gebrachte „Kinogeher-Phänomen der Bezeugung“ (Schober 2003:232) öffnet nun, so die Befürchtung, der Manipulation Tür und Tor: Der Film sagt einem, welche Schuhe man zu tragen, welches Auto man zu fahren und welchen Whisky man zu trinken hat. Ebenso erfährt man, wie ein glückliches Liebespaar zu leben hat, oder welchem Ehrenkodex ein aufrechter Bürger oder Held folgt. Kurz: Im Kino erfährt man, wie’s in der Welt zugeht und wie man sich zu verhalten hat.

Unter diesem Blickwinkel ist der Kinosaal eine Stätte gesellschaftlicher Integration, an der der Einzelne vermittelt bekommt, was die Gesellschaft von ihm erwartet – und das ist heute vor allem: stiller und stetiger Konsum. (2) Der Einzelne soll darüber hinwegtröstet und -getäuscht werden, dass er nur Rädchen im Getriebe der „verwaltete[n] Welt“ (GS 6, 31) ist. „In der Fabrik, im Kino und im Kollektiv“ (GS 3, 54) ist der Arbeiter in gleicher Weise „eingespannt“ (ebd.). Kino ist integraler Bestandteil gesellschaftlicher Kontrolle. An dieser düsteren Diagnose, erstmals formuliert in der gemeinsam mit Max Horkheimer geschriebenen Dialektik der Aufklärung (1947), hält Adorno bis in sein Spätwerk fest. In der posthum veröffentlichten Vorlesung Probleme der Moralphilosophie (gehalten 1963) heißt es dazu: „Ich möchte fast sagen, noch der scheinbar harmloseste Kinobesuch, zu dem wir uns verurteilen, müßte […] mit dem Bewußtsein davon gepaart sein, dass ein solcher Besuch, wenn wir ihn vollziehen, eigentlich bereits ein Stück Verrat an dem ist, was wir erkannt haben, und dass er uns wahrscheinlich […] in eben das nur weiter verstricken kann, wozu wir gemacht werden sollen und wozu wir, um überleben zu können, um uns anzupassen, offenbar in immer weiterem Maße auch uns selber machen.“ (1996:249)

Dass Filme – zumal Hollywood-Blockbuster – ökonomischen Gesetzen gehorchen und in eine Warenlogik eingebunden sind, wird in den Zeiten von cross marketing, merchandising und product placement wohl niemand in Abrede stellen. Jeder größere Hollywood-Film seit Star Wars (1977) ist flankiert von einer Palette verschiedenster Produkte; Reklame und Film durchdringen einander. Auch läßt die Filmindustrie, immer die Gewinnmaximierung bzw. Verlustminimierung fest im Blick, derzeit recht deutlich ihre Muskeln spielen, wenn sie etwa über die Berichterstattung über aktuelle Filme „Sperrfristen“ verhängt (wie jüngst im Zusammenhang mit Kill Bill 2 und, Gerüchten zufolge, bei Schweizer Pressevorführungen von The Matrix: Revolutions). Zu guter Letzt sei noch daraufhin gewiesen, dass Filme natürlich auch – mehr oder weniger subtil – messages transportieren und so zur Sozialisation beitragen: Wenn das Pentagon Kriegsfilme finanziert, so ist dies gewiß kein absichtsloses Mäzenatentum. (Dass dem Kino in unserer Gesellschaft nach wie vor eine große Sozialisationsmacht zugeschrieben wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, wie die Gesellschaft auf Filme reagiert, die – so die Befürchtung – eine schädliche volkspädagogische Wirkung entfalten könnten. Jüngstes Beispiel ist etwa die Comicverfilmung The Punisher, die zum Teil von Filmkritikern in Kausalbeziehungen zu den Grausamkeiten amerikanischer GIs in irakischen Gefängnissen gesetzt werden: „Wenn solche Filme zur Unterhaltung junger Menschen produziert werden, darf man sich nicht wundern, wenn dieser Unkultur entstammende Soldaten im Gefühl der Allmacht Videos drehen, die Zeugnisse tiefster Verrohung sind.“ (Hübner 2004)) Vor diesem Hintergrund scheint Adornos Diagnose von der Kulturindustrie als „Massenbetrug“ (GS 3, 141) an Aktualität nichts verloren zu haben.

„Im Dunkel dabeisitzen“:
Kino als ästhetisches Asyl
(Adorno II)

Da, wo Filme bei Adorno als kulturindustrielle Produkte in den Blick genommen werden, werden sie nur von der Produzentenseite her, im Hinblick auf zweifellos vorhandene Intentionen, bedacht. Der Kinogänger, so wird unterstellt, ist ihrer manipulativen Wirkung als passiver Empfänger schutzlos ausgeliefert – er ist Rezeptor, nicht Rezipient. (3) Eine Theorie des (aktiven) Rezipienten als eines mündigen Kulturteilnehmers findet man bei Adorno nicht, jedenfalls nicht an der Oberfläche. (4) Zwischen den Zeilen seiner markigen Kritik der Kulturindustrie, die vor allem eine Kritik der Filmindustrie Hollywoods ist, finden sich bei Adorno aber durchaus andere, leisere Töne, in denen dem Kino auch künstlerisches und kritisches Potential eingeräumt wird (das im studio picture aus Hollywood allerdings selten zur Geltung kommen kann): „Die Möglichkeiten, welche die technische Apparatur für Kunst in der Zukunft bietet, sind unabsehbar, und noch im verkommensten Film sind Augenblicke, wo diese Möglichkeiten sichtbar aufblitzen. Aber das gleiche Prinzip, das diese Möglichkeiten entfesselt hat, fesselt sie zugleich an den Betrieb des big business. Die Auseinandersetzung mit Massenkultur muss es sich zur Aufgabe setzen, die Verschränkung beider Elemente, der ästhetischen Potentialitäten der Massenkunst in einer freien Gesellschaft und ihres ideologischen Charakters in der gegenwärtigen, sichtbar zu machen.“ (GS 15, 12 f.)

Diese leisen Töne, in denen Möglichkeiten des Kinos ausgelotet werden, hat Martin Seel jüngst ins Zentrum einer subtilen Diskussion von Adornos Äußerungen zum Film herausgearbeitet. Dabei zeigt sich, dass Adorno dem Film, häufig implizit, manchmal auch explizit, den Status eines künstlerischen Mediums zuspricht: „[Der Film] arrangiert ein Klangbildgeschehen, bei dem die Dynamik kontingenter Ereignisse willkommen ist. […] Erster Garant dieser improvisatorischen Natur ist eine mehrfache Montage, die sowohl den bildlichen als auch den akustischen Prozess als auch ihre Verbindung zu einem heterogenen Klangbildverlauf beherrscht. […] Die filmische Montage hat für Adorno ein übergreifendes Telos, nämlich – mit den Worten aus der Ästhetischen Theorie – der ‚Intentionslosigkeit des bloßen Daseins‘ zur Anschauung zu verhelfen. Man kann dies […] ein kontemplatives Ideal nennen.“ (ebd. 140) Da, wo sie dieses kontemplative Ideal erreicht, ist die Kunstform Film nicht nur nicht schlicht manipulativ, sondern hat im Gegenteil subversives Potential: „Demnach ist der Film von seiner medialen Disposition her dazu geeignet, die funktionalisierten Ordnungen der modernen Welt in ein dysfunktionales Geschehen zurückzuverwandeln. Der Film ist berufen, eine Welt zu zeigen, in der die Dinge und Ereignisse in ihrer Besonderheit zum Vorschein gelangen können. Er ist jedoch zugleich dazu berufen, diese Verwandlung so durchzuführen, dass dabei die gesellschaftliche Irrealität dieser Anerkennung des Besonderen sinnenfällig wird.“ (ebd. 140 f.) Da wo der Film dieses Potential einzulösen imstande ist, wäre der Kinosaal folglich auch nicht ein kulturindustrieller Sozialisationsraum, die geschmähte ‚Opiumhöhle‘, sondern vielmehr ein „ästhetisches Asyl“ (ebd. 141), das es den Zuschauern erlaubt, „einen Abstand gegenüber den Mächten der gesellschaftlichen Integration zu gewinnen“ (ebd. 141 f.) Diesen Gedanken formuliert Adorno eher beiläufig in der Dialektik der Aufklärung und amalgamiert ihn mit seiner Kritik der Kulturindustrie: „Der Hausfrau gewährt das Dunkel des Kinos trotz der Filme, die sie weiter integrieren sollen, ein Asyl, wo sie ein paar Stunden unkontrolliert dabeisitzen kann […].“ (GS 3, 161) Was hier implizit und noch mit allzu verächtlichem Unterton zum Ausdruck kommt wird, hat Seel – mit dem Filmtheoretiker Adorno gegen den Kulturpessimisten Adorno – positiv ausformuliert: „Das ist es, was Zuschauer angesichts eines starken Films im Kino tun: sie sind unkontrolliert bei einem klangbildlichen Geschehen dabei, das sie leiblich und seelisch animiert, ohne dass sie dabei ideologisch manipuliert würden. […] Das Dabeisitzen bei ihrem Verlauf lässt den Zuschauern die Freiheit, mehr oder weniger unbehelligt an einem Geschehen beteiligt zu sein, das sie als empfindende Subjekte gleichwohl etwas angeht. Das ist die von Adorno erkannte kontemplative Natur des Kinos: es gewährt seinen Zuschauern die Gelegenheit, sich in virtuellen Räumen wahrnehmend gehen zu lassen. Dort, wo die Zuschauer unkontrolliert – und, so muss man hinzufügen: nicht kontrollierend – dabeisitzen können, ist der gesellschaftliche Kreislauf von Produktion und Reproduktion, Strategie und Gegenstrategie für eine kurze Weile unterbrochen.“ (2004:141 f.)

Das Kino gewährt also „ästhetische Unterbrechungen im Kreislauf der verwalteten Welt“ (ebd. 142). Dies ist nun keineswegs, wie man vermuten könnte, auf Kunstkino im engeren Sinne beschränkt, sondern begreift das Unterhaltungskino ausdrücklich ein (vgl. ebd. 135 f.): Als empfindende Subjekte sind die Zuschauer nicht erst im Godard- oder Wenders-Film angesprochen. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, daß es eigentlich der Horrorfilm oder das Actionkino sind, die den Zuschauer gänzlich mit- und losreißen: Eine knallbunte Jerry-Bruckheimer-Produktion mit ihrer gewaltigen Bilderwucht und Soundkulisse bietet ein ‚klangbildliches‘ Erlebnis von großer Intensität; der Zuschauer wird vom Surround-System förmlich in den Kinositz gedrückt. In diesem Sinne charakterisiert etwa Thomas Morsch den im Actionfilm entworfenen „Actionraum“ (1999:31) als „alles verschlingende Macht, in dem der Blick seine Souveränität und das Ich seine Begrenzung verliert“ (ebd.). Ein gelungener Horrorfilm vermag Ähnliches zu leisten, zumal wenn er über ein ausgefeiltes Sounddesign verfügt.

Gegen-Ort Kino:
Zur Heterotopologie des Kinosaals

Die hier skizzierten Auffassungen des Kinos sind nicht ohne weiteres kompatibel: In Adornos Rezeptor-Modell des Filmkonsums (Adorno I) ist für ästhetische Erlebnisse der oben genannten Art eigentlich kein Platz. Bei aller Skepsis ist Adorno aber ein Denker der Aufklärung, auch wenn er vor allem ihre Dialektik in den Blick nimmt, und als solcher orientiert er sich am Ideal freier, d. h. mündiger Mitmenschen. Folglich muss er den mündigen Rezipienten – als Alternative zum Rezeptor – für möglich halten. Eine verhaltene Relativierung des Rezeptor-Modells zeigt sich in dem Aufsatz „Filmtransparente“ (1966): „Die Identität von [Kulturindustrie und Massenkultur ist] […] nicht so über jedem Zweifel […], wie der Kritische denkt, solange er auf der Produktionsseite verbleibt und nicht die Rezeption empirisch überprüft.“ (GS 10/1, 360) Dass die Rezeption nicht so ausfallen muss, wie es die Produktionsseite vorsieht, heißt implizit, daß es (aktive) Rezipienten geben kann (und das ist die Möglichkeitsbedingung für das von Seel skizzierte ästhetische Asyl (Adorno II)). Josef Früchtl macht dies in seiner Adorno-Interpretation explizit: „Die Zuschauer sind nicht bloß Objekt, sondern auch Subjekt der Manipulation.“ (2004:158) Somit sind sie nicht bloß Rezeptoren, „eine Masse lustvoll leidender Rezipienten“ (ebd. 164), „Endglieder linearer Wirkungsketten“ (ebd.). Vielmehr gilt: „Die ‚Masse‘ […] diversifiziert sich hier nach bestimmten Reaktionsmustern und gewinnt wenigstens zum Teil eine aktive Rolle zurück.“ (ebd.)

Diese beiden miteinander konkurrierenden Lesarten illustrieren eindrücklich Foucaults Lesart des Kinos als einer Heterotopie. Im Rahmen des Sozialraums haben Heterotopien einen präzise angebbaren Sinn; in der Regel dienen sie der Festigung der gesellschaftlichen Ordnung. Dies gilt offenkundig für die dominanten Typen dieser Klasse von Orten, die Krisen- und die Abweichungsheterotopien, z. B. Schulen, Gefängnisse oder Altenheime (vgl. Foucault 2002:40 f.). Aber auch weniger ‚verfängliche‘ Heterotopien wie Bibliotheken oder Museen haben im gesellschaftlichen Ganzen einen bestimmten Sinn (vgl. ebd. 43): Sie formen das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft und strukturieren so den Diskursraum. Auch das Kino ist in diesem Sinne ein Sozialisations- und Enkulturationsraum, wie Adornos Analyse und Kritik der Kulturindustrie eindrücklich zeigt. Das Besondere und eigentlich Interessante an den Heterotopien ist aber, daß sie in ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht aufgehen, sondern diese vielfach transzendieren. Sie haben das Potential, das Ordnungsgefüge des Sozialraums in Bewegung zu bringen (vgl. ebd. 38), sie können die in den anderen Orten „bezeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren“ (ebd.). Und dies ist es, was sich ereignet, wenn das Kino zum ästhetischen Asyl im Sinne Adornos wird – oder, um mit Foucault zu sprechen, zu einem ‚Gegen-Ort‘ (vgl. ebd. 39). (5)

Wann freilich ereignet sich dieser Umschlag von der kulturindustriellen Opiumhöhle zum Ort ästhetischer Kontemplation? Josef Früchtl, der die Samen eines Rezipienten-Modells bei Adorno aufspürt, weist einschränkend auf die Rahmenbedingungen hin: „Entscheidend ist der kulturelle Kontext der Rezeption.“ (2004:164) Ob die Zuschauer zu von der Produktionsseite antizipierten Rezeptoren werden oder sich selbst als aktive Rezipienten gerieren6, hängt letztlich von ihnen selbst ab. So ist der ‚Gegen-Ort‘ Kino immer auch eine Einladung, selbst an kulturellen Deutungen mitzuweben und sie nicht nur nachzuvollziehen.

Fußnoten:

  1. Ich zitiere Adorno, wo möglich, nach seinen Gesammelten Schriften mit der Sigle GS unter Angabe von Band und Seitenzahl.
  2. In Norbert Bolz’ unsäglichem Konsumistischen Manifest (2002) hat die gesellschaftliche Sedativwirkung des Konsums jüngst sogar ihre kulturphilosophische Affirmation erhalten.
  3. Da wo Adorno eine „Erziehung zur Mündigkeit“ (1971:133) skizziert, denkt er sie lediglich in Form der in den 70er Jahren so beliebt gewordenen ‚Hinterfragung‘, in der das Falsche der Gesellschaft und der Kulturindustrie vor den Schülern vom Lehrer bloßgestellt wird und durch die sie gleichsam „immunisiert“ (ebd. 145) werden gegen ihre Glücksverheißungen: „Ich könnte mir etwa denken, dass man auf den Oberstufen von höheren Schulen […] gemeinsam kommerzielle Filme besucht und den Schülern ganz einfach zeigt, welcher Schwindel da vorliegt, wie verlogen das ist.“ (ebd.) Mit diesem Konzept einer ‚Mündigkeit von oben‘ bleibt der Philosoph leider hinter seiner eigenen Vorstellung von „freie[n] Menschen“ (GS 6, 218) zurück.
  4. In der jüngeren kulturwissenschaftlichen Diskussion wird dieses Defizit der Adornoschen Kulturkritik aufgegriffen (ohne dass dabei immer explizit der Name Adornos fällt). Paradigmatisch zeigt sich dies im Forschungsfeld der sogenannten „Visuellen Kultur“, das in einem von Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer herausgegebenen Sammelband umrissen wird. Visuelle Kultur – das meint, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung schreiben, eine Betrachtungsweise der „Vielfalt an Formen und Praktiken, in denen Kultur erzählt, geschrieben und produziert wird“ (Mörtenböck/Mooshammer 2003:5), die sich dadurch auszeichnet, dass stets „die Frage nach anderen, unbekannten und unbenannten Blickwinkeln“ (ebd.) gestellt wird – und zwar „jenseits herkömmlicher Kanäle und Wissenskörper und außerhalb eingelernter Diskurse und etablierter akademischer Disziplinen“ (ebd.). Als „postdisziplinäre Taktik“ (ebd. ) habe sie die Aufgabe, „die Effekte des kulturellen Alltags nicht aus der Warte der Produzenten zu formulieren, sondern über die Perspektive von Konsumenten zu einer eigenständigen Neudefinition und Neugestaltung kultureller Realitäten zu gelangen“ (ebd.). Damit gehen die Vertreter dieser im Wortsinne ‚undisziplinierten‘ Kulturwissenschaft über Adorno hinaus, ohne sein kritisches Anliegen zu vergessen. Dem kulturellen Geschehen und seinen Artefakten stehen sie nicht einfach affirmativ gegenüber, sondern plädieren für eine „Mikro-Piraterie“ (ebd. 7), das heißt eine Form der Kulturaneignung, die nicht bloß passiv, sondern aktiv gestaltend ist: „Diese veränderte Haltung gegenüber kulturellen Gütern und Prozessen führt uns von einem Pessimismus der Auslieferung gegenüber aufgetragenen Identitätsentwürfen zu Modellen des Unframings und Undoings […]. Von der Rolle des Markierten zum Spiel mit Markierungen, von auferlegten Bildwelten zur Collage als selbstbestimmten Verhandlungsort.“ (ebd.)
  5. Wörtlich spricht Foucault von „Gegenplazierungen“ (2002:39) und unterstreicht damit das subversive Potential der Heterotopien.
  6. Mit Stuart Hall unterscheidet Früchtl drei potentielle Rezeptionshaltungen: Die Rezipienten können „sich dem Deutungsangebot entweder unterwerfen (‚dominant-hegemonic position‘), es gänzlich ablehnen (‚oppositional position‘) oder mit eigenen Deutungen synthetisieren, der grundsätzlich akzeptierten Dominanzposition oppositionale Elemente beifügen (’negotiated position‘)“ (2004:165). Im ersten Fall würde man wohl von Rezeptoren, in den beiden anderen von mehr oder minder aufgeschlossenen Rezipienten sprechen.

Literatur:

  • Adorno, Theodor W. (1970–1986): Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u.a., 20 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp [zitiert als GS].
  • Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hrsg. v. Gerd Kadelbach, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Adorno, Theodor W. (1996): Probleme der Moralphilosophie, hrsg. v. Thomas Schröder, Nachgelassene Schriften IV: Vorlesungen Band 10, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest, München: Fink.
  • Foucault, Michel (2002): „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 7. Auflage (Erstauflage 1990), Leipzig: Reclam, 34–46.
  • Früchtl, Josef (2004): „Aufklärung und Massenbetrug oder Adorno demonstriert etwas uncool für den Film“, in: Seubold, Günter/Baum, Patrick (Hrsg.): Wieviel Spaß verträgt die Kultur? Adornos Begriff der Kulturindustrie und die gegenwärtige Spaßkultur, Bonn: DenkMal 2004, 145–165.
  • Höltgen, Stefan (2004a): „Vergewaltigung und Vergeltung. Film, Zuschauer und Zensor im Simulationsraum der Gewalt“, in: Ästhetik und Kommunikation 124, S. 39-46.
  • Höltgen, Stefan (2004b): „Sehen und Gesehenwerden …“, in: F.LM – Online.
  • Hübner, Wolfgang (2004): „Fragwürdiges Lehrstück für Folterer. Vor dem Hollywood-Machwerk „The Punisher‘ kann nur gewarnt werden“, in: Fränkischer Tag vom 12. Juni 2004.
  • Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (2003): „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.): Visuelle Kultur: Körper – Räume – Medien, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 5–16.
  • Morsch, Thomas (1999): „Die Macht der Bilder: Spektakularität und die Somatisierung des Blicks im Actionkino“, in: Film und Kritik 4, 21–43.
  • Schober, Anna (2003): „Close-ups in der Kinostadt“, in: Mörtenböck, Peter/Mooshammer, Helge (Hrsg.): Visuelle Kultur: Körper – Räume – Medien, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 231–253.
  • Seel, Martin: „Adornos Apologie des Kinos“, in: Seubold, Günter/Baum, Patrick (Hrsg.): Wieviel Spaß verträgt die Kultur? Adornos Begriff der Kulturindustrie und die gegenwärtige Spaßkultur, Bonn: DenkMal Verlag 2004, 127–144.

Über den Autor:

Patrick Baum, geb. 1975, studierte von 1995 bis 2002 Philosophie, Romanistik und Erziehungswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Derzeit ist er im Lehrgebiet „Bildungstechnologie“ der FernUniversität in Hagen beschäftigt und promoviert an der Universität Bonn im Fach Philosophie zu dem Thema Krise des Orts. Bausteine einer generativ-destruktiven Anthropologie des Wohnens. Mitherausgeber von Was mir Nietzsche bedeutet, Bonn 2001, Wieviel Spaß verträgt die Kultur? Adornos Begriff der Kulturindustrie und die gegenwärtige Spaßkultur, Bonn 2004, und Jean-François Lyotard: Die Logik die wir brauchen. Nietzsche und die Sophisten, Bonn 2004.

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