Der unsichtbare Text

Im Gegensatz zum Roman oder zur Kurzgeschichte führt das Drehbuch ein Dasein im Schatten. Fast eingeschüchtert, ins Niemandsland verbannt wie die Lyrik, die vom durchschnittlichen Leser nicht wahrgenommen, höchstens (vermeintliche) Triumphe in den Klassenzimmern unserer Schulen feiern kann. Das Drehbuch spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Dabei ist es die Grundlage für Multimillionen-Dollar-Seller, die ja doch vom Großteil der Bevölkerung mit Begeisterung (manchmal zumindest) im Kino konsumiert werden. Doch das wird nur am Rande wahrgenommen. Die Berufsbezeichnung »Drehbuchautor« wird von Außenstehenden jedoch eher positiv bewertet. Wahrscheinlich hat man direkt die Vision von Regisseuren und Stars, die dem Autor glücklich auf die Schulter klopfen, weil der ihnen eine tolle Idee oder eine wunderbare Rolle auf den Leib geschrieben hat. Ein toller Job also. Aber gelesen? Gelesen wird das Drehbuch nicht. Zumindest nicht im privaten Bereich. Die Ignoranz des Drehbuchs hängt stark mit seiner Entstehungsgeschichte, aber auch mit seinem Textstatus zusammen.

In den Zeiten des Stummfilms war das Drehbuch eine kurze, arbeitstechnische Grundlage mit Anmerkungen für die Reihenfolge und den groben Inhalt der abzudrehenden Szenen. Dann kam mit dem Aufkommen des Tonfilms der Dialog hinzu, der auch im Drehbuch festgehalten werden musste. Mit dem Boom des Hollywoodfilms sah man sich in den amerikanischen Studios gezwungen, Drehbücher in Massen herzustellen. Die hemdsärmelig-pragmatischen Studios heuerten Armeen von Autoren an, die in Fließbandarbeit Drehbücher produzierten. Drehbuchschreiben war work for hire. Die Festanstellung des Drehbuchautors, der im Auftrag produzierte, ließ keinen Raum für die Etablierung eines »Geniegedankens«, der zumindest in der europäischen Kulturgeschichte stark geläufig war. So war das Drehbuch auch nur selten das Werk eines einzigen Autors. Je nach ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten wurden die Autoren selektiv und meist zu mehreren an einem Buch eingesetzt. Der Autor, der gute Strukturarbeit leistete, durfte eine Stoffidee durchplanen, andere schufen die originellen Figuren, und wieder andere setzten hier und da pointiert witzige Szenen. Ein Drehbuch ging durch viele Hände und allein die Masse der Autoren verhöhnte die Idee, alle ihre Namen im Abspann zu nennen. Gone with the Wind (USA 1939) hatte zum Beispiel 16 Autoren. Unmöglich, diese alle aufzuführen.

Der Regisseur wurde in den Vordergrund gerückt und in den 60er/70er Jahren gipfelte die Ignoranz in der Auteur-Theorie, welche den Drehbuchautor völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung des Schaffensprozesses verdrängte. Der Regisseur wurde nun vollends auf den Thron gehoben. Sicherlich schrieben viele Regisseure ihre Drehbücher selbst aber z. B. bei Hitchcock war es völlig egal, welcher Drehbuchautor für ihn das Drehbuch geschrieben hatte – es war trotzdem immer ein »Hitchcock-Film«. Manchmal wurde auch der Kameramann zum Auteur, weil er mit seiner Kamera ja den »Stift« führte, der die Bilder zeichnete – je nach Standpunkt.

Der Entstehungsprozess des Drehbuchtextes wird durch diese äußeren Faktoren, die auch jetzt immer noch mehr oder weniger stark präsent sind, beeinflusst. Das Drehbuch, das der Autor an die Produktionsfirma verkauft, ist niemals die letzte Version des Buches. Immer wieder gibt es Änderungen. So liegen zwischen der ersten Idee des Autors und der Vorstellung der Produktionsfirma oft Welten, die nicht nur durch finanzielle Entscheidungen geprägt sind. Auch der Sender hat bestimmte Zielgruppen im Blick bzw. versucht, den Publikumserwartungen an sein Programm zu entsprechen (auch wenn wir uns hier auf das Fernsehen beziehen – beim Kinofilm funktioniert das nicht anders), so dass Inhalt wie Dramaturgie einer Geschichte den programmplanerischen Vorgaben dienen müssen. Eine Tatsache, die vielen Autoren heutzutage Erschreckenderweise gar nicht so geläufig ist. Man sollte aber nicht dem Irrtum erliegen, dass sich ein Kinofilm, der scheinbar viel mehr Freiheit und Raum für innovative Ideen und Geschichten bietet, nicht nach solchen Kriterien zu richten braucht. Bleibt schlussendlich der Regisseur als Transformator der schriftlichen Vorlage, der natürlich ebenfalls eigene künstlerische Vorstellungen vom Film hat, ja haben muss, die unter Umständen ebenfalls ins Script integriert werden müssen. In Absprache mit allen diesen Entscheidungsträgern entwickelt der Drehbuchautor sein Drehbuch, dessen Entwicklungsprozess über die Stadien Outline, Expose, Treatment, Bildertreatment, Drehbuch und schließlich Shooting Script (Regiebuch) verläuft.

Die Arbeit des Drehbuchautors ist zumeist Stückwerk, oft fremdbestimmt und selten das Werk eines Einzelnen. Doch das Produkt, das er abliefert, ist das Fundament für die Erstellung eines Films, und im Gegensatz zu allen anderen daran Beteiligten schafft der Drehbuchautor etwas hundertprozentig Genuines: Er ist der einzige, der mit einem »Nichts« beginnt (wenn man von Buchadaptionen o. ä. einmal absieht). Diese Tatsache eint aber nicht die Auffassungen über das Wesen des Drehbuchs. Jochen Brunow (1996) weist darauf hin, dass das Drehbuch als »notwendige, aber nicht eigenständige Prozessstufe im Ablauf der Erstellung eines Kinofilms« aufgefasst wird. Pasolini sieht das Drehbuch als eigenständige Technik, als vollständiges und in sich selbst vollendetes Werk an.

Vielleicht hilft es, sich den eigentlichen Drehbuchtext genauer anzusehen. Gerade dieser Anspruch auf Vollendung wird, wenn man den Drehbuchtext unter linguistischen Aspekten betrachtet, in Frage gestellt. Betrachtet man die äußere Form des Textes einmal unter Textsortenaspekten, so scheint das Drehbuch irgendwo zwischen Roman (auf Grund des Inhalts), Lyrik (auf Grund der reduzierten, knappen Form) und Gebrauchstext (auf Grund der starken Normierung) zu liegen.

Die Textlinguistik ordnet das Drehbuch, und zwar nicht nur auf Grund der äußeren Form, ganz eindeutig den Gebrauchstextsorten zu. Im Verlauf seiner Historie haben sich stereotype Formeln herausgebildet, mit Hilfe derer ein literarischer Text in einem genormten Gerüst wiedergegeben wird. Dieser ist stark konventionalisiert und kodifiziert und zielt in jedem Moment auf seine Umsetzung auf visueller Ebene ab. Die Codes, die im Drehbuchtext enthalten sind, differieren stark, da sie sich an die unterschiedlichen Rezipienten des Drehbuchs wenden. Ein Regisseur liest sicherlich anderes aus dem Drehbuch als der Schauspieler oder der Maskenbildner. Das Drehbuch lässt sich also als Sprechhandlung auffassen, die u. a. durch die Intention des Sprechers und die »Hörererwartung« eine bestimmte Kommunikationssituation spezifiziert.

Als Text ist das Drehbuch also multifunktional, da es in unterschiedlichen Stadien unterschiedliche Leser adressiert. Neben den bereits genannten Lesern wie Regisseur und Schauspieler, die das Drehbuch als eine Art Konstruktionszeichnung nutzen, gibt es eine breite Lesergruppe, die sich bereits weit vor diesem Stadium mit dem Drehbuchtext beschäftigt. Für Lektoren, Produzenten, Agenten und Finanziers hat das Drehbuch den Charakter einer Ware, bei der es primär um ihre Verkäuflichkeit geht. Das Drehbuch wird hier vor allem im Hinblick auf seine wirtschaftlichen Erfolgsaussichten gelesen. Doch auch nach dem Stadium der Konstruktionszeichnung (nach Claudia Sternberg: Blueprint-Stadium) gibt es eine weitere Ebene: Nach der Verfilmung des Drehbuchs beschäftigen sich z. B. Kritiker oder Wissenschaftler sozusagen posthum mit dem Werk, wobei dann natürlich ein interpretierender oder vergleichender Ansatz im Vordergrund steht. In dieses Stadium des Reading Materials (Sternberg) gehören auch die film transcripts, Abschriften, die nach Ansicht des Films im Drehbuchformat erstellt werden und sozusagen nur vorgeben, ein Drehbuch zu sein oder schlimmer noch: der Roman zum Film. Spätestens hier ist die Verbindung zum Originaltext völlig durchschnitten.

Doch zurück zur allgemeinen Wertung: Das Drehbuch wird als eine Art Gebrauchsanleitung für die Erstellung eines Filmwerkes aufgefasst (allein daher lässt sich schon die Einordnung als Gebrauchstext rechtfertigen). Leider beschränkt sich die Linguistik weitgehend auf diese Funktion, wenn sie den Drehbuchtext z. B. als »indizierende und orientierende« Textsorte bestimmt. Damit wird er auf die Stufe eines Diätplanes gestellt, der nur repräsentative Funktion erfüllt. Allein auf Grund der bereits angesprochenen unterschiedlichen Lesergruppen und ihren Erwartungen ist jedoch klar, dass diese Einordnung viel zu oberflächlich ist. Da ein Drehbuch neben seiner Funktion als Grundlage für die Produktion eines Films vielmehr eine bestimmte Idee, ein Thema vermitteln möchte, ist dem Text als Ganzes eine poetische Funktion unbedingt zuzusprechen (von den einzelnen Dialogen soll hier gar nicht die Rede sein). Vielleicht sollte man mit Belke (1973) sprechen, der das Drehbuch als literarisierte Gebrauchsform ansieht, da es literarische Elemente zur Erreichung praktischer Zwecke einsetzt.

Anhand der Bezeichnung des Drehbuchs in seinen Anfängen in Deutschland kann man die Entwicklung zum Gebrauchstext deutlich ablesen. Von »Filmstück« oder »Filmschauspiel« über den (fantastischen) »Filmroman« zur »Filmdichtung« bis hin zum »Manuskript« und »Drehbuch« (ab 1920) ist die stufenweise »Funktionalisierung« schon im Titel zu erkennen. Gleiches gilt auch für die Entwicklungsstufen des Drehbuchtextes – sein Charakter wandelt sich vom stark narrativ orientierten Stadium (Exposee) bis hin zum stark deskriptiv orientierten Stadium (Regiebuch). Diese Entwicklungsstadien legen die Auffassung nahe, dass das Drehbuch keinen bestehenden Charakter hat. Sternberg bezeichnet das Drehbuch treffender Weise als »Literatur im Flux«. »Flüchtiger« ist allerdings die Annahme, dass das Drehbuch im Laufe seiner Verwendung »verbrennt«, wie Brunow sagt. Es wird nicht fixiert, sondern ganz im Gegensatz zum Theatertext, der für eine wiederholte, mehrmalig interpretierbare Aufführung geschaffen ist, nach Entstehung des Films nicht schriftlich festgehalten und publiziert. Nur selten gelangen Drehbücher von erfolgreichen Filmen in den (Buch-)Handel. Dann handelt es sich zumeist nicht um das Originaldrehbuch, sondern um die bereits angesprochenen Abschriften des fertigen Films. Diese unterscheiden sich naturgemäß vom ursprünglichen Ausgangsmaterial und sind nur für ein gewisses Publikum interessant: Für z. B. eine filmhistorische oder professionelle Auseinandersetzung mit diesem Medium eignen sie sich nicht, da sie verfälschen. Dennoch kann man leicht an Originaldrehbücher kommen. Im Internet gibt es ganze Fanseiten, von denen die Drehbücher zu Hollywoodklassikern oder auch aktuellen Erfolgen runterzuladen sind. Und da sind wir an einem wichtigen Punkt: Wenn das Drehbuch einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht wird, bleibt zu hoffen, dass sein Ansehen steigt und es endlich als ein »vollwertiger« und poetischer Text anerkannt wird, den es Spaß macht zu lesen. Denn vergessen wir nicht: Der große Bruder des Drehbuchs, der Dramentext, wurde auch erst in der Romantik zur Lektüreform erhoben. Vorher wurde er nur von professionellen Lesern rezipiert.

Dennis Eick

Literatur:

  • Belke, Horst: Literarische Gebrauchsformen. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1973.
  • Pasolini, Pier Paolo: Das Drehbuch als eine Struktur, die eine andere Struktur sein will. zit. n.: Brunow, J. (a. A. O.), S. 25
  • Brunow, Jochen: Erzählen in Bildern. In: G. Ernst und T. Pluch: Drehbuchschreiben. EIne Bestandsaufnahme. Wien: Europa Verlag 1990. S. 22
  • Sternberg, Claudia: Written for the Screen. Das amerikanische Spielfilmdrehbuch als Text. Inaugural. Diss. Köln 1996. (Kapitel »Blueprint«, S. 37 ff. und »Literatur im Flux«, S. 18 ff.)

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