Schicht um Schicht

»Kunst« ist immer auch die mutwillige Veränderung des Zustandes einer Ressource in einen anderen, eine vorher so nicht da gewesene Form oder Zusammensetzung. Gefühlskalt ließe sich auch Zerstörung auf diese Art fast wortgenau definieren. Der Zusammenhang zwischen Kunst und Zerstörung ist somit ein ganz immanenter der Wesensverwandtschaft.

Kunst macht auch Andy Goldsworthy – vergängliche Kunst, um genau zu sein. Somit ist ein wesentlicher Aspekt seiner Werke immer auch die »Zerstörung« – nicht nur die der Ressourcen, sondern vor allem auch die des Kunstwerkes an sich, denn der in der schottischen Provinz lebende Künstler bedient sich eher ungewohnter Materialien und Entstehungsorte seiner Werke. Aus Laub entsteht eine mäanderförmige, kunstvolle Aneinanderreihung, die ein Flussbett hinab schwimmt, grobschlächtige Felsbrocken ergeben in der Summe der einzelnen Teile überdimensionale Gesteinskegel, die sorgfältig ausbalanciert in ansonsten unberührten Naturlandschaften oder neben selten befahrenen Gebirgsstraßen stehen, dutzende Eiszapfen ergeben, sorgfältig zurechtgebissen und sachte aneinander geschmolzen, schlangenförmige Symbole des Flusses und seines Verlaufs, die sich elegant und ihrer eigenen Wesensart entgegengesetzt an Gesteinsbrocken anschmiegen. Eine für museale Auswertungen sichtlich undankbare Kunst also, denn Goldsworthy ist »Land-Art«-Künstler und darüber hinaus noch mehr: ein wortkarger Philosoph der Schönheit des einzelnen Moments, für den die Welt nicht nur im winzigen Detail entsteht, sondern dort bereits entstanden ist, der versucht, die Gegebenheiten der Natur und ihrer Kräfte mittels seiner Kunst zu erfassen und zu verstehen, um dabei hinter den alles bestimmenden menschlichen Blick auf die Natur zu kommen. Was zunächst wie kitsch-überladene Naturmystik anmutet und vielleicht auch nach esoterischer Beliebigkeit klingt, entpuppt sich schnell als das genaue Gegenteil: nicht zuletzt die Gesetze der Physik und die empathische Umsetzung ihrer strengen Reglements in Fingerspitzengefühl und respektvolle Besonnenheit sind die Bedingungen, die die Brillanz und die scheinbare Leichtigkeit dieser Kunstwerke erst ermöglichen – ein naher Verwandter des Stalkers aus Andrej Tarkowskijs gleichnamigen Film gewissermaßen. Der Kameramann und Regisseur Thomas Riedelsheimer hat den zurückgezogen lebenden Künstler über vier Jahre lang mit der Kamera begleitet. Herausgekommen ist dabei Rivers And Tides – eine Dokumentation.

Das wichtigste Element seiner Kunst blieb bislang ungenannt: Zeit. »I’m working with time«, wie Goldsworthy selbst behauptet. Sie bestimmt den vergänglichen und brüchigen Charakter seines Werkes und manifestiert sich beispielsweise in den Gezeiten, die einen Gesteinskegel überfluten, in Flussbiegungen, die seine Blattkompositionen aus dem Blickfeld nehmen, in Gräsern, die zwischen arrangierten Farnen empor wachsen oder auch in langsam schmelzenden Eisskulpturen. Was Wunder also, dass Goldsworthy auch in der hohen Disziplin der Fotografie bewandert ist: Ist doch erst sie es, die – schon fast ein ironisches Augenzwinkern in Richtung Walter Benjamin – dem Kunstwerk seine letztendliche Aura verleihen kann, die als zwischengeschaltetes Medium erst eine Rezeption auf breiter Basis ermöglicht, und dem Betrachter der Abbildung den Eindruck vermittelt, etwas großartiges zu sehen, etwas was nur kurz, oft nur einen Augenschlag länger als es für den letztendlich entscheidenden Druck auf den Auslöser gebraucht hat, existierte und letztendlich Bild wurde. Das Kunstwerk wird auf den Schlusspunkt seines Entstehungsprozesses reduziert und durch die Wahl des Standortes der Kamera, also die Perspektive der fertigen Fotografie, interpretiert. Erst derart beliebig reproduzierbar beginnt es in der kollektiven Wahrnehmung zu existieren. Eine Not, die zur Tugend wurde: Die Fotografie war das notwendige, aber auch naheliegenste Mittel, um seine Mentoren an der Kunstschule von seinen Ambitionen zu überzeugen. Mittlerweile gehen Goldsworthys Arbeiten in Form von Fotografien rund um die Welt und werden auch hierzulande, seit einer Auswertung in mehreren Fotobänden des Verlags 2001, begeistert aufgenommen.

Das andere Kunstwerk von dem hier hauptsächlich die Rede ist, der Film Rivers And Tides, nun wiederum nutzt die Prämissen der eigenen Möglichkeitenen und bereichert die bereits Bild gewordene Performance-Kunst wieder um beider ureigentliches Element: Zeit. Und damit auch eng zusammenhängend: die alternative Perspektive der räumlich »entfesselten« Kamera. Auf diese Art gewinnen die von einigen auch als »kultisch« oder elitär abgetanen Bilder der Naturornamente den Charme des Experimentierens und Ausprobierens mit dem Material wieder zurück. Die Freude am Spieltrieb rückt näher ins Zentrum als die Freude am elitären Zurschaustellen des fertigen Produkts. Das Kunstwerk erhält die zeitliche Dimensionen zurück, die Reduktion aufs fertige Ergebnis wird revidiert. Da sich der Film zudem auch angenehm um eine »un-werkhafte« Annäherung bemüht, fühlt sich der Zuschauer nie belehrt, sondern nimmt stets unmittelbar an den Schaffungsprozessen des sympathisch zurückhaltenden Schotten teil, taucht ein in seine Philosophie der Kunst ohne den Muff von Seminarraum und Diavortrag überhaupt erst entstehen zu lassen.

So beobachten wir en detail den Fertigungsprozess der fragilen Konstrukte, erleben nicht selten das tragische Scheitern kurz vor der Vollendung, das dennoch nie in Resignation umschlägt, erfreuen uns an der Perfektion und eigentümlichen Schönheit der Resultate und verabschieden uns letzten Endes wehmütig von ihnen, wenn sie im Fluss fort getragen, vom Wind verworfen, kurz: weiterbearbeitet werden, wie Goldsworthy sagt. Beide Kunstwerke, Goldsworthys Skulpturen und der Film darüber, gehen eine fruchtbare Allianz ein und unterstreichen gegenseitig die Brillanz des anderen, wobei sich Riedelsheimer stets bewusst bleibt, dass seine Kamera nur das zweitrangige Element darstellt. So gewinnt beispielsweise ein sorgfältig angefertigtes Iglu, bestehend aus aufeinandergeschichteten, in sich austariert ruhenden Holzscheiten direkt am Ufer eines von den Gezeiten abhängigen Gewässers, durch eine sich langsam herantastende Kranfahrt der Kamera noch eine zusätzliche Ebene, die dem Betrachter zuvor nicht bewusst war. Riedelsheimer nutzt die Bedingungen der im positiven Sinne manipulativen Möglichkeiten des Films, um das Objekt der Begierde auf eine zuvor nicht vorhandene Stufe der Rezeption zu heben: Der voyeuristische Blick der Kamera wird ausnahmsweise zum symbiotischen Blick: Beide Kunstwerke geben und nehmen dankbar einander im Basar der Möglichkeiten. Dies nur ein Beispiel unzähliger solcher »Magic Moments«, die die Grundessenz des Kinos, seit jeher ein Ort des Glücksversprechens und – wortwörtlich – der Erleuchtung, darstellen. So gewinnt eben auch der Raum – die andere Koordinate des Films – Beachtung in der Rezeption des Kunstwerkes über den Umweg seiner technisch reproduzierbaren Konservierbarkeit:. Sonnenstrahlen, die zufällig eine Eisskulptur berühren und sie aus Perspektive der Kamera von innen glühend erscheinen lassen, werden zum festen Bestandteil des Kunstwerkes und seiner technischen Konservierung in Filmform. Das sich noch im Werden begriffene Artefakt offenbart mittels verschiedenster Perspektiven und Kameraauflösungen mehr und mehr seinen verschiedenartigen Charakter: Erst der Blickwinkel aus der Vogelperspektive ist es, der einer aus Steinen aufgeschichteten Mauer, quer durch eine Waldlandschaft in den USA, ihren ganz eigenwilligen Charakter zu verleihen scheint, ihn zumindest aber offensichtlich macht. So erschließen sich nach und nach durch verschiedene Blickwinkel auf das Kunstwerk – sowohl längs ihrer Entstehungsgeschichte als auch unter dem Gesichtspunkt ihrer räumlichen Bedingungen – neue Herangehensweisen an das fertige Kunstwerk.

Darüber hinaus montiert Riedelsheimer regelmäßig Aufnahmen aus der sowohl zeitlich als auch geografisch näheren Umgebung des Künstlers parallel in seine Dokumentation – Fußballspieler aus Goldsworthys Wahlheimatdorf zum Beispiel gerieren dergestalt, vertieft in ihrem Spiel und der Kamera nicht gewahr, zum Symbol des Goldsworthy’schen Ansatzes von »Geben und Nehmen«, »Impulse setzen und annehmen«. Wellenbewegungen und andere Naturspielereien reihen, meist im »Close-Up« gefilmt, Goldsworthys Werke ein in die Launen und Schönheiten der Natur und unterstreichen, meist mit Kommentaren des Künstlers aus dem Off garniert, maßgebliche Wesensarten seiner Kunst. »Was unter der Oberfläche steckt, beeinflusst die Oberfläche«, lässt Riedelsheimer Goldsworthy die eigenen Arbeiten an einer Lehmwand eines Museums, die ihr Geheimnis erst im Laufe ihrer Trocknung offenbaren würde, kommentieren und montiert dazu parallel eine Groß-Aufnahme eines seichten Baches aus der Vogelperspektive, dessen Wellenformen ganz augenscheinlich durch die darin liegenden, flachen Steine beeinflusst werden. Durch das stete Beifügen solcher ergänzender Bilder und Metaphern entsteht ein Gesamtbild aus Allegorien, der einfühlsamen Darstellung räumlicher Gegebenheiten und einer eigenen Philosophie der Einsamkeit und Meditation, welches wie seine Hauptattraktionen tief in sich ruhend geschlossen erscheint und so deren suggestive Aussagekraft noch zusätzlich unterstreicht. Freudig geben und dankbar nehmen, lautet die Devise und in diesen wechselseitig fruchtbaren Bildprozessen wird sie nur noch mehr manifest.

Aussagekräftig sind auch Goldsworthys Hände; haben doch die Arbeiten mit den Elementen der Natur quasi beiläufig über die Jahre hinweg ein weiteres Kunstwerk geschaffen, auf das uns erst Riedelsheimer mit seiner suggestiven Kamera aufmerksam macht. Verdächtig häufig bleibt diese im Close-Up an den Händen des Land-Art-Künstlers hängen: Pflaster werden hier quasi nebenbei im Spiegel ihrer eigenen Vergänglichkeit dokumentiert, mal wachsende, mal schrumpfende, mal empfindlich ans eigene Schmerzempfinden appellierende Hämatome wandern über die Haut, in welcher sich schon lange tiefe Risse und Falten eingegerbt haben. Unzählige Schichten Horn zeugen von einer eigenen Entstehungsgeschichte. Bedingt durch Goldsworthys Arbeitsweise, die sich um des Fingerspitzengefühls und auch der Höflichkeit willen Handschuhe verbietet, hat sich auch hier eine Landschaft gebildet, die einlädt, offen in ihr zu lesen, ganz genau wie der Künstler dies auch in seinen zu gestaltenden Landschaften tut. Seiner Sicht nach hinterlassen Zeit und Menschen »Schichten« auf und in der Landschaft und er fühlt sich dazu berufen, seinen eigenen Beitrag dazu beizufügen. Der Lauf der Natur – oder besser: der physikalischen Gesetze – verlangt stets wechselseitig seinen eigenen Tribut, doch sieht Goldsworthy dies eher als Bereicherung denn als unbequeme Komponente der Kunst: Wenn die Gezeiten seine Steinkegel schlucken, so sieht er dies als Geschenk an und wird Zeuge von etwas, was, so Goldsworthy, er sich selbst nie hätte erhoffen können. Natur und Kultur ausnahmsweise mal in sich vereint – auch hier ein Geben und Nehmen auf dem bereits angesprochenen Basar der Möglichkeiten.

Das letzte Bild schließlich zeigt Andy Goldsworthy, der in Kanada freudig Schnee in den Wind wirft und sichtlich fasziniert den Spielereien des Schneegestöbers in der Luft hinterher sieht, ohne dabei in eine Vulgär-Naturmystik zu verfallen. Dies ist durchaus symbolisch für den gerade gesehenen Film zu verstehen, der mit Finesse die Wunder aus dem Verhältnis zwischen (letztlich nur so empfundenen) Zufälligkeiten und bewusst forcierten Prozessen beleuchtet. Es gelingt ein intelligenter Kommentar zur Kunst (filmischer wie aktionistischer) und dem Verhältnis ihres Autors dazu.

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