Detonation im Labyrinth der Gewalt

Die Bilder des chinesischen Staatsfernsehens gingen um die Welt: Kleine Kinder, junge Frauen waren in Großaufnahme zu sehen, wie sie sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens selbst verbrannten. Aus entstellten, angekohlten Leibern in Gebetsstellung kamen zaghafte Hilferufe, unterlegt mit einem Kommentar, der die Gemeingefährlichkeit der Falun-Gong-Sekte unterstrich. Man sah fürchterliche Bilder einer authentischen Gewalt, die eingesetzt wurden, um das gewaltsame Eingreifen der Staatsmacht gegenüber einer Religionsgemeinschaft zu legitimieren und Empörung über gesetzliche Übergriffe einzudämmen. Die vielen stummen, schweigenden Gesichter inmitten der gespenstischen Vorfälle auf dem Pekinger Platz zeigen: Die Bevölkerung ist lethargisch genug, um sich von einzelnen Protestlern nicht aus ihrem Trott bringen zu lassen.

Die Fernsehbilder unterstreichen die erfolgreiche Werbebotschaft der Partei: Sie verkaufen Bilder der Gewalt als Opium fürs Volk, für eine Bevölkerung, der jeder Widerstand gegen die Staatsgewalt zwecklos erscheint. Gewaltbilder solcher Machart und in solchem Kontext sollen Gewaltausbrüche verhindern, sie versetzen das Potenzial des Einzelnen umso stärker in den Zustand der institutionalisierten Latenz, je brutaler und eindimensionaler sie daherkommen.

Ein junger dänischer Filmemacher, Nicolas Winding Refn, hat in seinem zweiten Spielfilm Bleeder, der 2000 bei den Filmfestspielen von Sarajewo den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik gewann, so etwas wie ein modernes gewalt-religiöses Drama geschaffen. Angesiedelt unter jungen Vorstadt-Kopenhagenern spielt die eigentliche Hauptrolle die latente Gewalt, die Erlösung verspricht, ihre eigene Ikonographie hervor bringt, eine Gewalt, die Blut und eindeutige Lösungen einfordert. Wer sich ihr nicht unterwirft, so legt es der Film nahe, bleibt in sich verloren und versinkt in der Nichtigkeit der eigenen Passivität. Wenn der Regisseur eine moralische Absicht vertreten würde, wäre es eine klare Absage an jede Form einer Kodifizierung von Filmgewalt. Jedoch macht es der Film dem Zuschauer nicht so einfach: stringent erzählt er in kurzen Episoden eine Geschichte von fünf jungen Leuten, beschreibt genau, ohne zu erklären und ohne zu werten. Zugleich mischt er sich auf seine eigene Weise in die Diskussion um Mediengewalt ein, indem er die unmittelbaren Wirkungen von filmischer Gewalt auf den Alltag junger Menschen beschreibt.

Trotz der realistischen Filmsprache, die in ihrer Stringenz die Welle der Dogma-Filme bereits abgelöst zu haben scheint, nimmt Bleeder Anteil an einem Diskurs über Gewalt, ihre Bilder und ihre Realität, der verstörend ist wie kaum in einem anderen zeitgenössischen Film mit Ausnahme vielleicht von Thomas Vinterbergs Festen. Bleeder spielt zwar im freien Westen, wo Meinungsfreiheit, offener Diskurs und Demokratie herrschen. Dennoch wird an diesem Film die opiatische Wirkung kodifizierter Gewaltbilder auf eine stumpfe, trostlose Gegenwart deutlich und mit der abstoßenden, befremdenden und beängstigenden Wirkung isolierter Gewaltbilder kontrastiert.

Zum Inhalt: Leo, Lenny, Louis und Kitjo sind Film-Junkies. Sie treffen sich beinahe täglich im Keller von Kitjo, dem Besitzer einer gut sortierten Videothek, und sehen sich Splatterfilme an. Leo lebt mit Louis’ Schwester Louise in einer heruntergekommenen Altbauwohnung. Lenny, der in der Videothek jobbt, kennt nur eines: Filme. Er ist ein schmächtiger, schüchterner Eigenbrötler, der sich in Lea verliebt hat, die in einer Imbissbude arbeitet. Jeden Abend steht er vor dem Schaufenster und beobachtet sie, bis wieder einmal die Sicherung durchknallt und alles stockdunkel wird.

Leo hat gerade erfahren, dass seine Freundin schwanger ist. Er lässt sich nicht anmerken, was in ihm vorgeht. Als Louis die beiden besucht und seiner Schwester gratuliert, nimmt ihn Leo beiseite und fragt seinen Kumpel, ob er selbst schon Vater sei.

Louise hat in einem Waschsalon eine junge Mutter mit zwei Kindern kennen gelernt und sie spontan zu sich nach Hause eingeladen. Leo taucht auf und sieht, wie eines der fremden Kinder mit seinen Sachen spielt, lässt er sich nichts anmerken. Als der Besuch verschwunden ist und Louise sich ihm unbefangen nähert, versetzt Leo ihr mit der Handkante einen äußerst heftigen Schlag ins Gesicht.

Louis besucht seine Schwester. Als er von Leos Wutausbruch erfährt, warnt er ihn eindringlich davor, seiner Schwester auch nur noch ein Haar zu krümmen, sonst würde er über die Klinge springen.

Während einer Filmsession im Keller der Videothek zückt Leo plötzlich eine Waffe und richtet sie auf Louis. Er droht ihn zu erschießen, genießt die kurzen Momente wirklicher Macht über seinen aggressiven Kumpel. Anschließend beim Bier in einer Snackbar versöhnen sich Leo und Louis mittels einer brüderlichen Umarmung. Die Sache mit der Waffe sei nur ein Scherz gewesen, meint Leo.

Zuhause muss Leo feststellen, dass Louise seine Sachen von einem Regal heruntergenommen hat, um das gemeinsame Schlafzimmer umzuräumen. Was zunächst wie eine lauernde Verstimmug wirkt, schlägt schnell um in blinden Hass: Sie habe nichts an seinem Eigentum verloren und ihn außerdem an ihren Bruder verraten. Auf einmal schlägt er hart auf seine schwangere Freundin ein, trampelt mit festen Tritten mehrmals auf den Bauch der am Boden Liegenden ein und verlässt wortlos die Wohnung.

Der schwer verletzten Louise gelingt es mit letzter Kraft, ihre Mutter anzurufen. Schließlich erfährt auch Louis von dem Vorfall. Er nimmt sich ein paar kräftige Kerle und lauert Leo auf, um sein Todesurteil an ihm zu vollstrecken. Ein aidskranker Junkie verkauft Louis eine Spritze, die mit seinem HIV-verseuchtem Blut gefüllt ist. Dann „exekutiert” er den schreienden Leo, indem er ihm die Spritze in einen Oberschenkel jagt.

Irgendwie schafft es Leo nach Hause, als Louise anruft. Durch seine Tritte habe sie einen Abort gehabt. Leo macht sich mit seiner Waffe auf die Suche nach Louis. Auf offener Straße schießt er ihn an, zerschießt sich dann seine linke Hand und wringt sie über Louis’ offener Bauchwunde aus: das infizierte Blut tropft in den Körper des Sterbenden. Anschließend tötet er sich mit einem Kopfschuss.

Die einzelnen Episoden des Films, die aus einer monochrom roten Fläche auftauchen und in sie wieder hinein verschwinden, zeigen in parabelhaftem , prägnanten Stil die amorphe Gestalt der Gewalt, sie führen in ihr Labyrinth wie in die Gänge eines kinematographischen U-Bootes, das kurz vor einer vernichtenden Detonation steht. Jeder der Beteiligten hat ein charakteristisches Verhältnis zur Gewalt, sei es Lea, die zwar keine Gewaltfilme ansieht, aber Bücher wie Last Exit Brooklyn liest, sei es Lenny, der in der Realität ein scheuer, alles andere als gewaltbereiter Zeitgenosse ist, mit einem Gewissen ausgestattet und hochempfindlich gegen jede Form gewaltgeprägter Auseinandersetzung, sei es Louise, die scheinbar friedlich vor sich hin lebt, aber von einem offensichtlich hochaggressiven, rassistischen Bruder gehegt und unbefragt beschützt wird. Das interessante an Bleeder ist, dass er keine der vorgestellten Perspektiven als wahr oder angemessen bevorzugt. Vielmehr stellt er die unterschiedlichen Perspektiven im Umgang mit einer scheinbar allgegenwärtigen, doch nur selten thematisierten sozialen Gewalt nebeneinander, versagt sich eindimensionale Wertungen. Seine Stellungnahme besteht im unbestechlichen, ungeschönten, aber auch von Negativklischees befreiten Blick auf seine Protagonisten, auf unscheinbare Regungen, die herkömmlicherweise in den offiziell geführten Diskursen um Rache, Familie, Filmgewalt usw. unterzugehen drohen, im Filmganzen jedoch ein Störelement bilden, das eine eindeutige wertende Bilanzierung unmöglich machen. Gerade darin liegt die besondere Qualität dieses Filmes, dass er statt abstrakter Grundlegungen zu einer sozialpsychologischen Theorie der Gewalt eine weder prätentiöse noch teilnahmslose Beschreibung des gegenwärtigen Gewaltphänomens bietet. Die einerseits perspektivistische, andererseits phänomenologische Ausrichtung von Bleeder verbietet daher eine Analyse vermeintlich schlüssiger Argumentationsketten, die dieser Film nicht aufweist. Statt dessen soll am Beispiel Leos der oben angerissene Handlungsablauf anhand signifikanter Episoden und Szenen beleuchtet werden.

Louises Freund ist das ideale Täteropfer: Scheinbar lieb und artig, zeigt Leo eine anscheinend früh antrainierte Fügsamkeit in einer aggressiven und destruktiven Umgebung. Leo wirkt zerrissen zwischen der passiven Fasziniertheit männlichem Behauptungsgehabe gegenüber und einer hochsensiblen aber ausdrucklosen Seite. Leos Gewaltausübung ist daher besonders absurd und hart: Sie richtet sich gegen Wehrlose, die ihm besonders am Herzen liegen: Er misshandelt seine Freundin schwer und trampelt den Fötus in ihrem Unterleib zu Tode.

Weich und aggressiv gehemmt, weicht Leo einer Auseinandersetzung um die Schwangerschaft seiner Freundin aus. Bei dem einzigen kurzen Gespräch zwischen den beiden wird klar, dass Louise schon mehrere Abtreibungen hinter sich hat und jetzt endlich ein Kind bekommen möchte.

Als Louis zu Besuch kommt, verkrümelt sich Leo in einen anderen Raum, wo er schweigend an eine Wand gelehnt verharrt. Beim anschließenden Geplauder mit Louises Bruder wird schnell deutlich, dass Louis den Überblick hat: Er weiß, dass wir Menschen auf der Welt sind, um Kinder zu zeugen; wenn irgendwann alles gesagt und getan ist, will auch er Kinder haben. Schon seine offensive Gangart macht klar, wer hier der Macher ist und wer der ewige Schweiger. Leo ist der unsichere Junge, der seine Gefühle hinter albernen Fragen von Mann zu Mann vertuscht.

In der Diskothek will Leo nur weg von der Gewalt, die sich vor seinen Augen abspielt. Zaghaft bittet er hinaus zu dürfen; was natürlich niemand hört, denn alle anderen sind gerade mit Leibeskräften dabei, den ausländischen Schützen tot zu prügeln. Leo steht hilflos, ohnmächtig da, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Vor ihm spielt sich in der Realität ab, was er zur Genüge kennt und dem er scheinbar niemals entfliehen kann; eine Gewalt, die er Tag für Tag als Filmware konsumiert. Gezeigt wird das verzweifelte Schreien des Opfers, die dumpfen Schläge mit Metallstangen auf Nieren und Schädel des wehrlosen Mannes. Ihre Inszenierung steht in ihrer lakonischen Strenge in eklatantem Gegensatz zu den überbordenden Gewaltopern in den Splatterfilmen, die sich die Freunde regelmäßig reinziehen.

Einen Kick an Überlegenheit kann sich Leo verschaffen, als er Lenny bloßstellt: der hat es nicht geschafft, mit Lea vernünftig, also nicht nur über Filme zu reden, er hat weder Anstalten gemacht, sie zu küssen noch sie anzufassen. So etwas ist für Leo schlicht unnormal. Leo ist allemal was Besseres als der gestörte Filmfreak und Autist Lenny, dessen Lieblingsfilm das The Texas Chainsaw Massacre ist und der nicht einmal eine Frau rumkriegt.

Beim eskalierenden Streit mit den andersfarbigen Kioskbesitzern spürt Leo schnell, was es heißt, ganz normal und männlich zu sein: Louis lässt seinem aggressiven, sexistischen Rassismus freien Lauf, bezeichnet die Ladenbesitzer als „schwarze Fotzen“, ist kurz davor alles kurz und klein zu schlagen. Leo schweigt betreten, voll unterdrückter, aber ungerichteter Aggression. Nur Lenny entschuldigt sich.
Beim abendlichen Splatterfilm bringt Leo die Rede auf den Schusswechsel vor der Diskothek. Louis will nichts davon hören, verleugnet alles. Ein vorsichtiges Aufmucken Leos gegen den dominanten Freund kommt auf: Er will sich nicht mehr andauernd diese unwirklichen Filme ansehen. Gleichzeitig verdichtet sich sein Wunsch, selbst in den Besitz einer Waffe als eines scheinbar notwendigen Machtinstumentes zu kommen. Er fragt Louis aus, ob er jemals Lebewesen erschossen habe, Menschen oder wenigstens Tiere, Kaninchen oder so. Louis verneint. Dann unverblümt die Frage, ob er ihm einen Revolver besorgen kann – just for fun. Während auf der Leinwand munter und opulent geschlachtet wird, konkretisieren sich Leos Vorstellungen von einer handfesten Waffe. Diese Filme seien unlogisch, wie schnell die immer an so viele Knarren kämen, meckert er wie ein motziges Kind. Sein Gesichtsausdruck ist dabei übersättigt von Gewalt.

Leo scheint so besoffen vom untätigen Anschauenmüssen von Brutalitäten, von seiner zugleich rauschhaften und lähmenden Wirkung, dass er die Annäherungsversuche Louises nicht mehr ertragen kann.

Mittlerweile hat sich Leo eine Waffe besorgt und zeigt sie stolz Lenny. Mitten in den unzähligen Videokassetten wirken beide so fremd und unangebracht wie Lea, die filmfremde Leserin. Sie sucht auf ihre Weise nach Stoffen der Entgrenzung: in einem Antiquariat fragt sie nach Hubert Selbys Last Exit Brooklyn. Der Antiquariats-Keller, in den sie geschickt wird, mit seinen meterhohen Regalen und seinen zehntausenden von Büchern erinnert zugleich an die Kamerafahrt zu Beginn des Filmes, die die unzähligen Videokassetten in Kitjos Laden zeigt: auch hier eine verstellte Welt voller Abbildungen von Leben, selbst aber völlig lebensfremd. Räume, in denen ein einzelner Mensch sich unweigerlich fremd und klein fühlen muss wie in einer Kathedrale.

Als Louis Leo auflauert, um ihn wegen der Schläge gegen Louise zur Rede zu stellen, hält dieser die ganze Zeit die Finger an seinem Revolver. Er lässt sich von Louis demütigen, als fettes Schwein beschimpfen.

Doch erst am Abend zückt er die Waffe, nachdem ihn der äußerst aggressiv gestimmte Louis konsequent provoziert hat. Leo verharmlost seinen Ausbruchsversuch aus seiner Hilflosigkeit, indem der den Auftritt mit dem Revolver als Joke deklariert.

Leo ist gefangen in einer Welt, die Stumpfsinn, hierarchisches Verhalten, Gehorsam, Gewalt und Gleichgültigkeit kennt und vor allem: Scheu vor jeder emotionalen Offenheit. Das Zücken seiner Waffe während eines Splatterfilmes kann nichts anderes als einen Witz darstellen, für die anderen makaber und unverständlich, für ihn selbst zwecklos, da immanent im Kosmos der Gewalt verstrickt. Sein Versuch, Louis aus seinem Leben zu verbannen, und das mittels einer Waffe, ist so absurd wie gefährlich. Einerseits ist Louis ein durch und durch gewaltgeprägter Mensch, der sich von solchen massiven Drohungen nur angestachelt fühlen muss; andererseits will Leo nicht mehr behelligt werden, wenn er seiner Freundin heftige körperliche Gewalt antut. Als er Louise zum ersten Mal schlägt, wirkt es wie der verzweifelte Versuch, für einen kurzen Moment die eindeutige Sprache der Filme in die Wirklichkeit seiner Beziehung und der damit verbundenen Probleme zu übertragen. Die Momente, die Louis erstarrt vor Angst in seinem schmuddeligen Sofa sitzt, bis Leo abdrückt und alle zusammenzucken, als man nur das Klicken des Abschusshahns hört – der Revolver ist nicht geladen – scheinen für einen Moment die Minderwertigkeit, Schwäche, Ohnmacht, das dauernde Gedemütigtsein Leos aufzuwiegen. In Wirklichkeit setzen sie eine Gewalteskalation zwischen den beiden in Gang, die trotz der verlogenen männerbündischen Versöhnungsgeste in der Snackbar von jetzt an eine kaum mehr zu steuernde Eigendynamik entwickelt. Der Streit mit Louise, die einlenken will, als Leo sich wütend zeigt wegen der Unordnung an seinen Sachen, bricht vollends aus, als er ihr Verrat vorwirft, sie beschuldigt, ihrem Bruder von den Schlägen erzählt zu haben.

Die letzten Sequenzen zeigen Leo und Louis nur noch als stumme Darsteller eines unerbittlichen, emotionslosen und zwanghaften Gewaltrituals, das in der hohlen Geste der blutenden Faust Leos und seinem Schuss in den Mund gipfelt. Gezeigt wird der Versuch, die Rivalität, Angst und Hass in die Form filmisch vermittelter Gewalt zu kleiden. Winding Refn gelingt es hierbei souverän, ihr klägliches Scheitern zu verdeutlichen. Das scheinbar endlose Jammern des durchschossenen Louis, der auf der Straße verblutet, das leise Wimmern Louises, deren Leibesfrucht soeben zertreten wurde, der brüllende Leo, wie er an den Stahlketten hängt und um Hilfe ruft: die Regungen der Opfer sind so eindringlich, so undramatisch inszeniert, dass sie beinahe unerträgliche Empathie herausfordern, was kein konventionelles Gewaltklischee zulässt. Die darauf folgende Leere: Louise in der stillen Wohnung, Lenny auf dem Friedhof lassen die Folgen spüren, die die unwiderrufliche Zerstörungswut hervorgebracht hat. Ein Katergefühl nach einem verderblichen Rausch, so könnte man die Atmosphäre der letzten Filmbilder beschreiben. Ganz am Ende glaubt man nur zaghaft, dass es nach all dem Vorgefallenen Lenny gelingen wird, etwas mit der spröden Lea anzufangen, was jenseits des Filmes liegt.

Die stille Welt emotionaler Autarkie, wie sie von den Figuren Leas und Louises verkörpert werden, hat in einer Welt keinen Platz, wo an die Stelle von menschlicher Schwäche, liebevoller Zuwendung und einem möglichst unvoreingenommen Blick auf die eigenen Möglichkeiten der verzweifelte, kraftmeierische Ausdruck purer Zerstörungswut getreten ist. Auch der scheinbar friedfertige Lenny, voll gepumpt mit falschen, billigen Bildern einer lebensfremden Kunstwelt, die er auswendig vorsagen kann, scheitert mit seinen zaghaften Versuchen, einen Kontakt zu Lea aufzubauen; er kennt schlichtweg nichts anderes als die hermetische Bilderwelt der Videofilme, was sogar Kitjo auf die Palme bringt. Die Männer wirken durchweg liebesunfähig. Ihnen ist alles Liebevolle so fremd, wie Lea die ihnen wohlbekannte Splatterwelt. Ihre Gesichter sind teilnahmslos, frei von jeder Gefühlsregung.

Die Filmbilder der verbrannten Falun-Gong-Anhänger zeigten einem Milliardenpublikum, wie Bildergewalt, zum Zweck der systemtragenden Abstumpfung eingesetzt, ein mächtiger Appell an die Duldsamkeits-Potenziale der Menschen sein können. Manch abgestumpften, emotional verödeten Zeitgenossen können sie aber auch auf die Idee bringen, durch Anwendung ihrer künstlichen, dramatisch begründeten Dynamik auf sein Leben zu einer Erlösung zu kommen. Diesen theologischen Aspekt der Gewalt – ihre realitätsferne Ikonographie, ihr universelles Erlösungsversprechen, ihre väterliche Zuchtmeisterei, die den konkreten Menschen zu einem schwächlichen, unwissenden Einzelwesen ohne Charme und Liebenswürdigkeit abstempelt – macht die Besonderheit von Bleeder aus. Aus der Allmachtperspektive des Gewaltblickes scheinen die einzelnen Akteure mängelbehaftet und zu sozialer Interaktion und Kontaktaufnahme unfähig. Der Blick des Filmes selbst jedoch scheint keinen eigenen archimedischen Punkt mitten im Gewaltlabyrinth zu besitzen. Was am Beispiel Leos geschildert wurde, kann aus den Blickwinkeln Lennys oder Louis’ zu ähnlichen Ergebnissen führen.

Über die Herkunft von Gewalt schweigt sich Bleeder aus. Es geht ihm um eine exakte Beschreibung, wie gesellschaftlich latente Gewalt unter jungen Menschen gehütet wird wie ein Geheimnis unter dem Deckmantel des Schweigens, der Literatur, persönlicher Obsessionen, im Kleid der filmischen Gewalt, und wie sie – falsch verstanden – ausbrechen kann. Einer plumpen Nachahmungstheorie hängt der Film nicht nach, denn er zeigt, wie der Konsum von Gewaltfilmen bei den verschiedenen Figuren auf völlig unterschiedliche Verhaltensformen stoßt: Lenny, der am härtesten gesottene Trash-Junkie, verabscheut reale Gewalt und handelt in heiklen Situationen deeskalierend. Auffällig ist, dass die konsumierten Gewaltbilder für den Film so gut wie keine Rolle spielen. Das gemeinsame Sehen, der Treffpunkt im Keller der Videothek: Es ist die soziale Funktion des Filmesehens, das die sozial ziemlich desolate Situation der Jungs einerseits vertuscht, andererseits wettmacht. Was bei Lenny zu einer Abwehrreaktion führt, bricht bei einem eskalationsbereiten Charakter wie Louis in mörderisches Imitationsverhalten aus. Gerade eine ambivalente Figur wie Lenny zeigt, wie unmöglich und dennoch gewünscht es sein kann eine Übertragungsform zu finden, die im Moment sozialer Ohnmacht zur Umkehr in Potenz führt.

Wie groß die Spannungen untereinander sind, zeigt das Ende des Films. Die Momente des Filmkonsums, ihre Ritualisierung, unterschlagen ebendiese Gewaltlatenz. Hier sind die Konsumenten gleich, passiv, mit Projektion beschäftigt statt zu agieren, obschon draußen vor der Videothek ganz andere Hierarchien spürbar sind. Zwar bilden die Filme den gewaltgeprägten, kalten, trashigen Duktus ab, der die Lebenswelt der Hauptfiguren kennzeichnet. Gleichzeitig verhindert er jede Auseinandersetzung, beruhigt und lässt in sonderbaren Unwelten schwelgen. Wie brisant ein solch mediales Opium sein kann, sobald die soziale Dynamik die unterdrückten Rivalitäten und Hasspotentiale aufreißt, davon gibt „Bleeder“ beredtes Zeugnis ab.

Vielleicht deshalb, weil er nicht nach der frühen Entstehung der Gewaltbereitschaft fragt, die die Protagonisten zur Filmgewalt und einige schließlich ins Grab bringt, entlässt Bleeder den Zuschauer mit der Ungewissheit, überhaupt irgendetwas gegen die Omnipräsenz der Gewalt mitten in der Trostlosigkeit der Gegenwart zu unternehmen. Was seinen klaren Blick ermöglicht, behindert den Regisseur, das Gewaltphänomen spielerisch, mit Witz und Distanz zu bearbeiten. Gerade diese distanzlose Schwere hebt seinen Gewaltdiskurs ins Theologische. Gewaltfreiheit gibt es für den Film allenfalls in einer Familie, die liebevoll mit ihren Kindern umgeht, wie die junge Bekanntschaft Louises.

Wo es nicht möglich ist, Emotionen zu artikulieren und auf ein einfühlsames Gegenüber zu bauen, greifen die klischierten Stereotypen von Genrefilmen, gewaltgeprägte Riten von Schuld und Rache, von Blutdurst und eiserner, kalter Hierarchie, von exzessivem Hass umso wirksamer.

Was einem neurotischen Intellektuellen einen phantastischen Kick versetzen kann, wo er Allmachtsgefühle so ausleben kann, dass keine Auseinandersetzung in der Realität stattfinden muss, kann bei entsprechender Disposition, so der Film, in anderen Menschen modellhafte Züge annehmen. So weit, dass die billige Ritualisierung von Männer-Stereotypen Einzug hält in eine ahnungslose Wirklichkeit, sie aufsprengt wie eine zerstörerische Explosion.

Georg Joachim Schmitt

Über den Autor:

Georg Joachim Schmitt arbeitete nach seinem Studium der Philosophie, Klassischen Philologie und Kunstgeschichte mehrere Jahre hauptberuflich im Medienbereich, darunter als Spielfilmredakteur, Jugendschutzbeauftragter und Producer. Heute lebt er als Publizist, Autor und Produzent in Köln. Schmitt ist Stellvertretender Vorsitzender der Hauptausschüsse der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) in Wiesbaden. Derzeit arbeitet er an einer Dissertation über „Authentizität und Bildgewalt“ an der Universität Mannheim. Im Juli vergangenen Jahres erschien sein Buch „Die Allmacht des Blickes – Die Debatte um Mediengewalt im zeitgenössischen Film“ in der edition nadir in Köln.

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