Auge in Auge

Solche Filme, sagt Dominik Graf, müsse man retten. Sie hinübertragen, zum anderen Ufer. Weil sonst eine Filmgeschichte, die sich ja selbst immer größer schreibe, als sie in Wirklichkeit gewesen sei, solche Arbeiten übergehen würde. Der Film, den Graf hier in Obhut nimmt, ist Rocker, ohne Zweifel einer der großartigsten Filme des bundesrepublikanischen Kinos der 70er Jahre. Und man muss Dominik Graf dankbar sein für eine solche Ansage, die im Zuge des Gesprächs für Auge in Auge – Eine deutsche Filmgeschichte vielleicht nur schnell daher gesagt wurde, im fertigen Film aber, im Kontrast zu den Darlegungen anderer deutscher Filmschaffender und den von den Autoren des Films – FAZ-Filmkritiker Michael Althen und dem Ex-Leiter der Retrospektive der Berlinale, Hans-Helmut Prinzler – ausgewählten Ausschnitten aus insgesamt 251 deutschen Filmen, im fertigen Film also kommt diesen Worten einiges an Gewicht zu.

Denn treffender könnte dieser, mutmaßlich bei Rotwein konzipierte Streifzug durch 113 Jahre deutschen Film (verbunden mit der steten Suche nach dem deutschen Wesen) kaum beschrieben sein. Auge in Auge ist zwar gut gemeint – man wollte vor allem Lust auf eine (erneute) Sichtung der Filme machen, so Prinzler nach dem Film -, doch sehr viel mehr als etwas flauschiger Cineastenkitsch für die etwas ältere Garde ist aus dem Vorhaben, leider, nicht geworden: Filmschaffende werden nach ihren Lieblingsfilmen befragt und dürfen diese näher referieren; das ist mal großartig – Graf und Rocker -, mal „geht so“ bis öde – Wenders und M -, mal seltsam – Ballhaus zieht einen, von ihm selbst geschossenen, Fassbinderfilm heran. Dazu gibt es einen eigens komponierten Score – süßlich, melancholisch – und einige, in der Tat aber sehr hübsche, Montagen von wiederkehrenden Motiven im Laufe der deutschen Filmgeschichte (Küssen, Rauchen, Telefonieren).

Natürlich, es handelt sich hierbei nur um eine, nicht um die deutsche Filmgeschichte. Das wird gleich eingangs betont, ist aber als Statement so obligatorisch wie als Selbstabsicherung durchsichtig. Dennoch, diese eine Filmgeschichte unterscheidet sich kaum von jener einen, die man üblicherweise auf den Regalen öffentlicher Bibliotheken findet. Fritz Lang, Riefenstahl, Kluge, Fassbinder, ein bisschen Wenders, Tom Tykwer für den Gegenwartsfilm, die Gebrüder Skladanowsky dürfen einmal mehr nicht fehlen (und werden einmal mehr, fälschlicherweise, als eigentliche Väter des Kinos hingestellt, die – oh deutsche Verlierermelancholie – ja bloß das Nachsehen gehabt hätten, gerade so, als wäre es medienhistorisch nicht längst bewiesen, dass von den Skladanowskys der Weg zum Kino nicht gangbar gewesen wäre, von den Lumières aus aber eben schon) und alle weiteren üblichen Verdächtigen, deren Namen zumindest in hektischer Montage vorgeführt werden. Das ist alles, je für sich genommen, nicht unbedingt schlecht und, selbstverständlich, von einiger Relevanz; nur erneut aufgekocht und so zusammengestellt langweilt dies dann doch. Bis zu jenem Misston eben, den Grafs Lieblingsfilm darstellt, der für ein anderes Kino aus Deutschland steht, für das die Kulturbeflissenheit des ansonsten berücksichtigten bildungsbürgerlichen Kanons viel zu selbstbesoffen wäre. Jede Filmgeschichte arbeitet notwendig mit Auslassungen, aber was hier weggelassen wird, wird einmal mehr, erneut und wohl auf ewig: weggelassen.

Das deutsche Kino aber erscheint hier als Märchen. Als wattiges Zuckerland der unbegrenzten Möglichkeiten – von Fidericus Rex bis Christian Petzold alles drin -, Bauchschmerzen (Harlan, Riefenstahl) inklusive. Und Althen – er kommentiert den Film selbst – gibt, mit tiefem Bass und manchmal so, als spräche er für die Sendung mit der Maus, den Märchenonkel. Was ist der deutsche Film? Eine Vielzahl kleiner, beschaulicher Begebenheiten. Wo fliegt er hin, der deutsche Film? Mitten hinein in die Versonnenheit. Und was macht er heute? Ja, wenn er nicht gestorben ist usw.!

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