Das paranoide Weltbild

„Sehen Sie?“, fragt der orthodoxe Jude immer wieder, doch Detective Robert Gold, seines Zeichens selbst Jude, sieht nichts. Die Ausführungen des Juden bleiben für ihn rätselhaft, konfrontieren ihn mit einer ihm völlig fremden Weltanschauung. Am Ende dieser Schlüsselszene von Mamets Film stellt der studierende Jude die Identität Golds radikal infrage: Als er ihm eine Kopie aus dem Buch Esther in hebräischer Schrift reicht und erneut fragt „Sehen Sie?“, gesteht Gold, dass er den Text nicht lesen könne. „Sie sagen, Sie seien Jude und können kein Hebräisch? Was sind sie dann?“

homicide.jpgDetective Robert Gold (Joe Mantegna) und sein Partner Tim Sullivan (William H. Macy) bekommen den Auftrag, einen gefährlichen Schwerverbrecher, den Polizistenmörder Randolph (Ving Rhames), zu fassen. Durch einen dummen Zufall wird Gold jedoch von diesem Fall abgezogen, um den Raubüberfall auf einen Süßwarenladen aufzuklären, bei dem die Besitzerin, eine alte Jüdin aus reicher Familie, erschossen wurde. Äußerst widerwillig nimmt Gold die Recherchen an dem Fall auf, der für ihn reine Formsache ist. Die Angehörigen der Toten, die immer wieder Erfahrungen mit dem in New York schwelenden Antisemitismus gemacht haben, nehmen den Unwillen Golds äußerst widerwillig zur Kenntnis und packen ihn bei der Ehre: Es gehe hier auch um „seine“ Leute. Für Gold wird die Lösung des Falles daraufhin zur persönlichen Mission und bald glaubt er selbst nicht mehr an einen einfachen Überfall. Er kommt einer Verschwörung auf die Spur, an deren Ende jedoch nicht die Enttarnung des Mörders, sondern bittere Selbsterkenntnis steht …

Zwei Filme müssen einem sofort einfallen, wenn man David Mamets „Homicide – Mordkommission“ sieht: John Schlesingers „Der Marathon Mann“ beginnt mit einem zunächst ganz harmlosen Streit zwischen zwei Autofahrern. Die Situation spitzt sich zu als die ersten rassistischen Verunglimpfungen fallen: Bei den Streithähnen handelt es sich um einen Juden und einen Altnazi. Für beide endet der aus lächerlichem Anlass begonnene Disput mit dem feurigen Zusammenstoß mit einem Benzinlaster. Schlesinger schafft so die Stimmung für einen Film, dessen Handlungsort New York immer noch unter den Spätfolgen des Holocaust zu leiden hat. Ganz ähnlich in Mamets Film: Die latente rassistische Anspannung ist fast mit Händen zu greifen. Weiße hassen Schwarze, Schwarze hassen Weiße und alle gemeinsam verachten sie die Juden, gegen die ein Neonazi mit selbst gedruckten Pamphleten mobil macht. Der Antisemitismus geht so weit, dass selbst der jüdische Gold in einem Moment äußerster Schizophrenie und des Selbsthasses über die „verdammten Geldjuden“ herzieht.

Der zweite Film, zu dem sich deutliche Parallelen herauskristallisieren, ist Alan Parkers „Angel Heart“. So wie jener wie ein typischer Film Noir beginnt, dessen Protagonist, ein Detektiv, den Auftrag erhält, eine Person zu finden, und sich dann mehr und mehr in einen Horrorfilm zu verwandelt, bei dem der Held herausfindet, dass er in Wahrheit auf der Suche nach sich selbst ist, verwandelt sich auch Mamets Film vom realistischen Polizeifilm in einen Mystery-Thriller. Das Geschehen wird immer fremdartiger, an die Stelle von Beweisstücken und Zeugenbefragungen treten geheimnisvolle Botschaften und nächtliche Treffen mit rätselhaften Geheimbünden. Doch die Fährte, die Gold beschreitet, führt ihn nur zu sich selbst. Am Ende kommt er nach seinem buchstäblichen Abstieg in die Hölle wieder zu sich und zur Selbsterkenntnis. Leider zu spät, denn er hat bereits alles verloren. Diese Reise ins Ich wird von Mamet auch formal äußerst konsequent umgesetzt. Die klar strukturierten hellen Bilder der Straßenzüge Brooklyns weichen der Dunkelheit, finsteren Kellern und leer stehenden Häusern. Teile des Bildes werden zudem immer häufiger durch sich im Vordergrund ins Bild schiebende Elemente verdeckt und nähern die Perspektive de Zuschauers so der zunehmend paranoiden Weltsicht Golds an. Dessen größter Fehler ist es letztlich, dass er sich nicht mehr auf seinen untrüglichen und über Jahre kultivierten Instinkt verlässt, sondern seine Ermittlungen auf scheinbar objektive Wahrnehmungen stützt, die jedoch bereits verstellt und subjektiv präfiguriert sind.

Mamets „Homicide – Mordkommission“ ist ein ungemein spannender, ästhetisch wie inhaltlich wertvoller Film, der allerdings durchaus kontrovers diskutiert werden kann und muss. Mit der Zeichnung der Übergriffe befürchtenden reichen Familie und der Einführung eines jüdischen Geheimbundes scheint Mamet selbst nur zu bereitwillig antisemitische Kischees aufzugreifen. Zur Verteidigung des bekannten und mehrfach ausgezeichneten Drehbuchautors und Regisseurs David Mamet ließe sich allerdings ins Feld führen, dass er diese Klischees ganz bewusst und zum Zwecke der Zuschauermanipulation setzt. Den Film von der sicheren Außenposition zu verfolgen, ist aus diesem Grunde kaum möglich. Will man dem Rätsel von „Homicide – Mordkommission“ auf den Grund gehen, muss man selbst die Reise ins Ich antreten und sich fragen lassen: „Sehen Sie?“

Homicide – Mordkommission
(Homicide, USA 1991)
Regie: David Mamet, Drehbuch: David Mamet, Kamera: Roger Deakins, Musik: Alaric Jans, Schnitt: Barbara Tulliver
Darsteller: Joe Mantegna, William H. Macy, Ving Rhames, Vincent Guastaferro, J. J. Johnston
Länge: ca. 98 Minuten

Zur DVD von e – m –s

Bild- und Tonqualität der DVD sind leider nicht perfekt, besonders der Vorspann weist deutliche Verschmutzungsspuren auf. Trotzdem eine akzeptable Veröffentlichung eines tollen Films.

Zur Ausstattung der DVD:
Bild: 1,78:1 (anamorph)
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 2.0 Mono)
Extras: Trailer, Bio- und Filmografien
Länge: ca. 98 Minuten
Freigabe: ab 16
Preis: 14,99 Euro

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