„Ein unglaubliches Ding!“

Anders als im echten Leben geht vom Proleten, dem Asozialen, dem kleinen Gauner und Halunken eine unerklärliche Faszination aus, wenn er auf der Leinwand erscheint.Möchte man vor saufenden, sich in peinlichem Imponiergehabe ergehenden Halbwüchsigen in der Realität am liebsten die Flucht ergreifen oder ihnen wenigstens ein paar Monate Stubenarrest aufbrummen, sind Marlon Brando und James Dean mit ihren rebellischen Halbstarkenrollen zu Ikonen und Idolen nicht nur der Jugendkultur geworden. Ein seltenes deutsches Filmbeispiel für den Typus des Halbstarken ist Freddy Borchert aus Georg Tresslers Nachkriegsklassiker „Die Halbstarken“, genial interpretiert von einem jungen Horst Buchholz, der damit den Grundstein für eine internationale Karriere legte.

halbstarken.jpg„Die Halbstarken“ erzählt die Geschichte eines ungleichen Brüderpaars: Der 19-jährige Freddy Borchert hat das Elternhaus fluchtartig verlassen, arbeitet seitdem an einer Tankstelle und ergeht sich in Träumereien über „das große Ding“ und das sich daran anschließende Spießerleben mit Kind, Kegel und Auto in der schicken Eigentumswohnung. Nach Feierabend ist er der unangefochtene Anführer seiner Bande, hält sich wie die großen Vorbilder James Dean und Marlon Brando eine schicke Blondine, die kühle Sissy (Karin Baal), und der dicke Amischlitten steht auch schon für ihn bereit. Eines Tages begegnet ihm sein Bruder Jan (Christian Doermer), der noch bei seinen Eltern lebt und deren Streitereien langsam satt hat: Der Vater hat Schulden und lässt seine Wut an seiner Gattin und seinem verbliebenen Sohn aus. Als Jan mitbekommt, welchen halbseidenen Lebensstil der große Bruder pflegt, bittet er ihn, die Schulden des Vaters zu begleichen, um so der Mutter zu helfen. Doch der zur Beschaffung des Geldes stümperhaft geplante und ausgeführte Überfall auf einen Posttransporter bringt nicht das erhoffte Bargeld, sondern letztlich eine Eskalation der Situation …

Das Deutschland der Nachkriegsjahre war sichtlich darum bemüht, den durch den Krieg zerstörten schönen Schein schnell wiederherzustellen. Ein Film über Jugendkriminalität und den naiven Traum vom schnellen Geld war demzufolge kaum ohne moralische Schlagseite zu verwirklichen. So lässt sich wohl auch die Schrifteinblendung erklären, die Tresslers Film einleitet und beinahe apologetisch wirkt: Nein, nicht alle Jugendlichen verhalten sich so, wie die im Film porträtierten, doch um zu gewährleisten, dass dies auch so bleibe, müsse man die Öffentlichkeit für ihre Situation und ihre Probleme sensibilisieren. Der folgende Film kommt dann zum Glück ohne den erhobenen Zeigefinger aus, nimmt seine jugendlichen Protagonisten sehr ernst, und enthält sich eines aufdringlichen Kommentars, der ihre Taten nachträglich bewertet. So zeichnet sich „Die Halbstarken“ durch eine sehr ungekünstelt wirkende Unmittelbarkeit und eine unverstellte Beobachtungsgabe aus – Eigenschaften, die nicht immer ausgesprochene Stärken des deutschen Films sind. In Szenen wie jener, in der wir Freddy und seiner Bande beim ausgelassenen Feiern in der Bar „Espresso“ zusehen, sind weniger vom voyeuristisch-empörten Blick auf „die Jugend von heute“ geprägt, sondern im Gegenteil von großer Sympathie und Verständnis für die Nachkriegsgeneration, die sich das triste Berlin der Fünfziger zur glitzernden Parallelwelt stilisterten, in der alles möglich war.

So sehr Tresslers Film aber auch Verständnis für eine Jugend ohne allzu große Perspektiven evoziert, eine Jugend, die immer noch unter der Fuchtel preußischen Autoritätsgehabes zu leiden hat, so überzeugt „Die Halbstarken“ nicht zuletzt als gänzlich unprätentiöses Spannungskino, als genuin deutsche Antwort auf den amerikanischen Juvenile Delinquent– und Gangsterfilm. Wenn wir den Jugendlichen zu den Schauplätzen ihres anstehenden Coups folgen, Freddy dabei zusehen wie er seine Mitstreiter instruiert, ihnen die auszuführenden Handgriffe und Handlungen vorexerziert und Tressler dabei dessen Stimme so weit in den Hintergrund mischt, dass sie kaum noch vernehmbar ist, dafür aber die Umgebungsgeräusche umso stärker in den Vordergrund treten, fühlt man sich beinahe an das komplexe Tondesign der Filme eines Alfred Hitchcock erinnert. Großen, kaum zu überschätzenden Anteil am Erfolg seines Films haben aber die Darsteller, die ihre Rollen mit viel Verve und großer Authentizität füllen. Neben Horst Buchholz, der eine absolut beispiellose Vorstellung abliefert, brillieren Christian Doermer und Karin Baal, die als undurchsichtige Sissy zu einem Jugend-Sexsymbol wurde, aber auch die anderen Jungdarsteller liefern tolle Leistungen ab. „Die Halbstarken“ ist eine der Sternstunden des deutschen Films und entfaltet auch 50 Jahre nach seiner Entstehung einen unwiderstehlichen Sog. Und Horst Buchholz darf sich in der Galerie der großen Kinoproleten in Sichtweite zu den genannten Ikonen niederlassen.

Die Halbstarken
(Deutschland 1956)
Regie: Georg Tressler, Drehbuch: Willy Tremper, Georg Tressler, Kamera: Heinz Piehlke, Musik: Martin Böttcher, Schnitt: Wolfgang Flaum
Darsteller: Horst Buchholz, Christian Doermert, Karin Baal, Jo Herbst, Viktoria von Ballesko
Länge: ca. 97 Minuten
Verleih: Kinowelt

Zur DVD von Arthaus

Arthaus veröffentlicht „Die Halbstarken“ in zwei Versionen: einer normalen und einer „Premium Edition“, die Christopher Buchholz‘ Dokumentation „Horst Buchholz … Mein Papa“ auf einer weiteren DVD enthält. Bidl- und Tonqualität lassen keine Wünsche offen. Die Angaben unten beziehen sich auf die „Premium Edition“.

Zur Ausstattung der DVD:
Bild: 1,33:1
Ton: Deutsch (Dolby Digital 2.0 Mono)
Extras: Bonus-DVD „Horst Buchholz … Mein Papa“, Guter Rat: Gespräch mit Miriam Bru, Gespräch mit Horst Buchholz, Wim Wenders über Horst Buchholz, Interview mit Christopher Buchholz, Trailer, Galerie
Länge: ca. 97 Minuten (Dokumentation 92 Minuten)
Freigabe: ab 12
Preis: 24,99 Euro

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