Ein psychologischer Lehrbuch-Fall

Was treibt einen normalen Mann aus dem Mittelstand dazu, auf der Autobahn ein Auto abzudrängen, den Fahrer des Wagens zu erschlagen und dessen Frau zu entführen, nur um sie ein paar Monate lang im Kofferraum des eigenen Autos gefangen zu halten? Diese Frage filmisch zu beantworten hätte einigen Reiz, könnte man mit ihr doch sowohl auf eine Psychopathologie des Normalbürgers wie auch auf eine Gesellschaft, in der es möglich ist, dass solch ein Verbrechen stattfindet und unentdeckt bleibt, insistieren. Der belgische Spielfilm „Ordinary Man“ führt genau diese Geschichte vor – die Fragen hingegen beantwortet er nicht, er wirft sich sogar nicht einmal auf.

ordman.jpgDer etwa 50-jährige Kleinunternehmer Georges begeht genau diese Verbrechen. Auf nächtlicher Landstraße kidnappt er Christine, nachdem er ihren Freund ermordet hat und hält sie – ohne jeden Hintergedanken – in Kofferraum seines Merzedes gefangen. Zuhause hat der Möbelhändler mit einigen Problemen zu kämpfen: Seine Frau, die in seiner Abwesenheit ein Verhältnis hat, von dem er nichts weiß, weist ihn beständig ab und seine Tochter geht ihm pausenlos auf die Nerven. Es scheint also, als wolle sich Georges mit Christine eine Art Ersatzfamilie konstruieren. Diese Annahme führt der Film jedoch nicht aus. Anstelle dessen wird die allmähliche Gewöhnung der Gekidnappten an ihre Existenz im Autokofferraum und die Polizeisuche nach ihr und ihrem ermordeten Freund inszeniert. Die Polizei wird jedoch – das scheint nach dem Deutroix-Fall eine Konstante im belgischen Film zu sein – als völlig unfähig, korrupt und von Privatinteressen hintertrieben dargestellt. Während der Dorfpolizist selbst es ist, der mit Georges Frau eine Affäre unterhält und dem gehörnten Ehemann vorspielt, sein weltmännischer Freund zu sein, selbst jedoch unter der Fuchtel seiner Mutter steht, ist das schwule Ermittlerpärchen, das eigentlich mit der Suche nach Christine betraut ist, mehr damit beschäftigt, sind in der Wohung der gekidnappten breitzumachen.

ordman1.jpg„Ordinary Man“ inszeniert seine Protagonisten – allen voran Georges – als genau jene „Normopathen“, vor denen man sich im Ernstfall zu fürchten hat. Ihr Handeln bleibt stets von Eigeninteresse bestimmt oder wird gar nicht begründet. Und so schlittert der Film von einer moralisch fragwürdigen Szene in die nächste. Fragwürdig auch deshalb, weil es eigentlich nie einen Grund für das jeweilige Handeln der Beteiligten gibt. Das gipfelt in die Tatsache, dass Christine trotz mehrfacher Todesgefahr schon sehr bald keine Versuche mehr unternimmt, aus ihrer Gefangenschaft zu entkommen und anstelle dessen eine „Stockholm-Syndrom“-Beziehung mit ihrem Entführer eingeht, ja diesen sogar bei einem späteren Mehrfachmord deckt. Das alles scheint genauso willkürlich wie der zeitweilige Einbruch des Fantastischen in den Plot (Georges begegnet der verwesten Leiche von Christines Mann) oder der am Ende konstruierte Tathergang, den die Ermittler so klar finden wie „einen psychologischen Lehrbuchfall“. Die Ungereimtheiten des Verbrechens übergehen sie dabei genauso geflissentliche, wie das Drehbuch die Ungereimtheiten seines Plots übergeht. Das ist aber keineswegs die damit beabsichtigte Ironie, sondern schlicht und ergreifend Schlamperei.

Ordinary Man
(Belgien 2005)
Regie & Buch: Vincent Lannoo; Musik: Michel Berckmans, Alain Gilbert, Cédric Lorans, Franck Nicolaï; Kamera: Gilles Bissot; Schnitt: Frédérique Broos
Darsteller: Carlo Ferrante, Christine Grulois, Stefan Liberski, Olivier Gourmet, Anne Carpriau, Elladé Ferrante u. a.
Länge: 103 Minuten
Verleih: offen

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