What Time is it there?

Liebestrunken sitzt Hsiao-Kang in Taipeh/Taiwan nachts vor dem Fernsehschirm, schaut sich sehnsüchtig Truffauts 400 COUPS (F 1959) an, denn seine Liebste, Shiang-Chyi, lediglich eine Projektionsfläche, weilt in Paris, wo sie, wie wir wenig später sehen werden, etwa zum gleichen Zeitpunkt auf einer Parkbank sitzt, neben sich – Nanu! – Jean-Pierre Léaud. Hektisch kramt sie in ihrer Tasche, sucht, wie sie Léaud auf dessen Frage nebenbei antwortet, nach einer Telefonnummer, nach Hsiao-Kangs Nummer, wie wir wissen, auch er fungiert als Projektionsfläche. Ganz französischer Charmant kritzelt Léaud die eigene Nummer auf einen Zettel, reicht ihr diesen mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, stellt sich als „Jean-Pierre“ vor und meint, da habe sie nun eine – seine – Telefonnummer. Mal ganz ehrlich, muss man einen Film nicht alleine schon für diese Szene, diese Idee lieben?

Nun, man kann, natürlich, ist aber – zum Glück – nicht dazu angehalten, ihn allein aufgrund dessen zu lieben, denn auch jenseits dieser kleinen, cineastischen Augenzwinkerei – es versteht sich von selbst, dass Léaud allein für diese Idee, nicht aber darüber hinaus (s)eine Rolle spielt – weiß WHAT TIME IS IT THERE? von Tsai Ming-Liang mit vielen kleinen und größeren Einfällen zu überzeugen.

Um was geht’s? Hsiao-Kang ist Straßenhändler, verkauft, eher lustlos, Uhren. Der Vater ist vor kurzem gestorben, die Mutter flüchtet sich in den Trost des Buddhismus, glaubt, dass ihr Gatte reinkarniert zurückkehren werde, richtet die Organisation des Alltags und damit auch des Zusammenlebens zunehmend auf dieses Ereignis aus, was zusehends zum Zwist mit dem Sohn führt. Shiang-Chyi lernt er dann auf der Straße beim Geschäft kennen, sie interessiert sich für die Uhr an seinem Handgelenk, doch die ist, zunächst, unverkäuflich. Im Verhandlungsgespräch stellt sich heraus, dass die junge Frau schon bald in Paris weilen werde, dass sie deshalb eine Uhr benötige, die ihr beide Uhrzeiten – die lokale, wie die der Heimat – anzeige. Für den nächsten Tag wird ein weiteres Treffen verabredet, dann könne Hsiao ihr ein Exemplar dieser Uhr besorgen, verkauft wird, letztendlich, dann dennoch das eigene. Für beide – Hsiao durch den Tod des Vaters, die Entfremdung der Mutter traumatisiert, Shiang-Chyi in der Fremde isoliert – gerinnt die flüchtige Begegnung zur Projektionsfläche eigener Sehnsüchte, zum sicheren Anker in Zeiten der Unsicherheit. Hsiao flüchtet sich in französische Filme, die er nicht versteht, macht es sich zur Aufgabe, jedwede Uhr in seiner Umgebung nach Pariser Zeit einzustellen (was die Mutter im Haushalt als Zeichen der baldigen Wiederkehr des Gatten umdeutet), denkwürdige Parallelen im Bestreiten des Alltags, wie etwa die eingangs skizzierte, tun sich auf.

Das mag etwas nach Wong Kar-Wai klingen, ist aber in der Auflösung denkbar weit von den stilisierten Melancholielektionen des Hongkong-Chinesen entfernt. Eine weitgehend unbewegte Kamera fängt das Geschehen ein, macht sich selbst so zum statischen Fenster, den Kinosaal zum Kuckkasten in die Alltagsrealitäten weit – auch voneinander – entfernt lebender Menschen. Der Zuschauer ist auf sich selbst zurückgeworfen, ist durch und durch Betrachter – die bestrahlte Leinwand als bewusst wahrgenommene Fortsetzung des Raums. Denn um den trennenden Raum – immerhin der halbe Globus liegt zwischen beiden Spielorten – geht es: hier das moderne Taiwan, dort das gleichsam alt wirkende Paris. Und damit immer auch verbunden die Zeit, die man rumkriegen muss, bis man den anderen wieder sieht, die man totschlagen muss, ist doch nichts anderes zu tun, als den Verlust an sich nagen zu lassen.

Doch sind die einzelnen – ja, man kann sie wohl so nennen – Bildkapitel, die WHAT TIME IS IT THERE? aneinander montiert, niemals beliebig oder gar banal. Jedes Bild erfüllt seinen Zweck im Ganzen, jedes ist, wenn auch oft understatement-haft, durchkomponiert, in sich austariert. Der Film entwickelt dabei eine ganz eigene Freude am Sehen, lässt durch die empathisch nur langsam vergehende Zeit die Freude am Detail und am Blick darauf erwachen: Ein Treppenhaus, so und nicht anders, die Kamera keinen Millimeter anders positioniert, in Szene gesetzt, ein Hausflur, so banal in seinem Dasein, so schön in der Aufnahme. Ruhig, gleichsam meditativ das Erzähltempo, geradezu verschwenderisch werden Aspekte des Alltags gezeigt, doch immer eingebettet in ein, wenn nicht narrativ, so doch atmosphärisch in sich geschlossenes Ganzes.

Und dann, immer wieder, dieser trockene, poetische, unheimlich menschliche Humor, etwa wenn Hsiao jede, aber auch wirklich jede Uhr umzustellen versucht. Von einem flachen Dachgelände aus beugt er sich zur Fassade hinab, angelt mit einer zweckentfremdeten Antenne nach dem Uhrzeiger eines Hochhauses, zieht den Zeiger in die gewünschte Position, Paris Ortszeit bitte schön. Gänzlich unspektakulär setzt der Film das in Szene, fast schon beiläufig, kein Kommentar. Man schmunzelt in sich ein, lächerlich indes wird’s nie. Man bleibt gespannt, mit welcher Begebenheit uns der Film als nächstes auf Entdeckungsreise schicken wird.

Es bleibt zu erwarten, dass WHAT TIME IS IT THERE? auf nur wenigen der hiesigen Leinwände zu sehen sein wird. Wer die Möglichkeit dazu hat, sollte sich diesen kleinen, unspektakulären, lebensklugen, und, ja, auch gewitzten Film nicht entgehen lassen.

What Time Is It There? (Ni neibian jidian, Taiwan, 2001)
Regie: Tsai Ming-Lang; Drehbuch: Tsai Ming-Lang, Yang Pi-Ying; Kamera: Benoît Delhomme;
Schnitt: Sheng-Chang Chen; Darsteller: Kang-sheng Lee, Shiang-chyi Chen, Yi-Ching Lu, Tien Miao, Cecilia Yip, Chao-jung Chen, u.a.
Verleih: Pegasos Laufzeit: 116 Minuten

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