Über Wahrheit und Lüge im kinematographischen Sinne

„Le cinéma c’est la vérité 24 fois par seconde.“ Jean-Luc Godards Definition sagt wohl noch mehr über seinen Begriff der Wahrheit als über das Kino. Denn welche Art Wahrheit ist es wohl, die uns Film erzählt? Dass dieser, besonders der fiktionale Spielfilm, keine „wahren Geschichten“ erzählt und dass hinter jedem noch so objektiv(ierend)en Dokumentarfilm immer eine sehr subjektive Perspektive steht, hat Godard in seiner Kritik des Cinema Vérité ja selbst konstatiert. Das Verhältnis von Wahrheit und Lüge im Film untersucht ein neuer Sammelband aus dem transcript-Verlag.


Dieses Verhältnis, so stellen die Herausgeberinnen in der Einleitung voran, ist mehrschichtig. Aufgrund seiner medialen Disposition suggeriert Kino zunächst stets Authentizität: Die Bilder sind Abdrücke einer Realität, die zur Zeit der Aufnahme stattgefunden hat – wenn ihre Erzählung auch konstruiert ist. So kann Kino zwar gelogene Geschichten erzählen, aber der Modus seines Erzählens selbst muss stets wahr sein, damit die Lüge als Wahrheit glaubhaft wird. Auf einer anderen Ebene ist das „Kino der Lüge“ zu verstehen als Untersuchung eines Motivkomplexes. Hier wird Film nicht nur als „Erzählung von Lügen und Lügnern“ diskutiert, sondern ebenso als reflexives Medium: In wiefern sind die Narrationen von Filmen wie Cronenbergs „eXistenZ“ oder Lynchs „Lost Highway“ als Theorien über Wahrheit und Lüge zu lesen?

Methodischer Zugang wie auch die Auswahl der Beispiele in dem zehn Beiträge umfassenden Band sind äußerst heterogen. Sie reichen von medientheoretischen Reflexionen (am Beispiel von Antonionis „Blow Up“ oder Cronenbergs „eXistenZ“) über historisch-politische Wahrheitsanalyse (Kusturicas „Schwarze Katze – Weißer Kater“, Kurosawas „Rashomon“ oder Fernando Perez’ “Das Leben, ein Pfeifen“) bis hin zur Untersuchung von „Ästhetiken des Lügens“ (Lynchs „Lost Highway“ oder Greenaways „Kontrakt des Zeichners“).

Sind die jeweilgen Zugänge zu den Filmen auch nicht immer unanfechtbar (etwa jene sehr zweifelhafte Anwendung der Freud’schen Traumtheorie als eine Art „Lexikon allgemein gültiger Traumsymbole“ im „Lost Highway“-Kapitel), so liefert der aus dem Regensburger Graduiertenkolleg „Kulturen der Lüge“ herausgegebene Band durch seinen sehr spezifischen Zugang zum Medium Film beachtlichen methodischen Mehrwert. Denn die durch Godard aufgeworfene (und verneinte) Frage der unhinterfragbaren Authentizität filmischen Erzählens kann dadurch, dass der Begriff von Wahrheit und Lüge auf die hier diskutierten Felder erweitert wird, zu einem sehr fruchtbaren Analysekriterium werden. An dessen Ende steht der Film als Reflexionsmedium, das uns auch unseren eigenen Zugang zur Wahrheit der Welt versinnbildlichen kann.

Kerstin Kratochwill & Almut Steinlein (Hg.)
Kino der Lüge
Bielefeld: [transcript] 2004
194 Seiten (broschiert mit Abb.)
23,80 Euro

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