Staatsgewalt und Voyeurismus

Es gibt immer zwei Seiten. Oder drei, wie wir seit „Rashomon“ wissen. Ganz ähnlich wie Kurosawas Klassiker baut Davids Tochter Jennifer Lynch ihren „Unter Kontrolle“ auf, und verabschiedet sich dann doch mittendrin aus diesem Konzept. Sicher aber: eine Grenze zwischen Gut und Böse zieht auch sie nicht.


FBI-Agent Sam Hallaway (Bill Pullman) im Polizeirevier. Er starrt auf eine Wand, an der Tatortfotos befestigt sind. Eine solide Wand, weiß getüncht, kein französischer Spiegel. „They don’t belong here, take them off“, sagt er, und Lynch schneidet auf eine seltsame Perspektive, hinter die Wand, die inzwischen durchsichtig geworden ist, ebenso wie die Fotos. Etwas milchig ist das Bild nun, und die Akteure schauen dem Publikum ins Auge, während sie die Fotos abnehmen. Die vierte Wand, die zwischen Bühne und Zuschauerraum, hier ins Bild gerückt und mit Beweisen behangen.

Apropos Beweise, „evidence“: Es ist wieder ein Foto, das unter Anderem ein Schild mit der weiß-auf-schwarzen Aufschrift „evidence“ zeigt, und es ist wieder Agent Hallaway, der darauf sieht. Er nimmt einen schwarzen Stift, färbt so das „e“ ins Unsichtbare, und trennt das „d“ in ein „o“ und ein „l“ – „violence“ steht jetzt dort, und genau das ist es auch, was das Foto dokumentiert. Weg von der nüchternen, bürokratischen Betrachtung einer übel zugerichteten Leiche, hin zum nüchternen Urteil über das Abstraktum, das sich aus dem Bild lesen lässt. Jennifer Lynch hat viel von den Filmen ihres Vaters übernommen, seine achronologische Erzählstruktur ebenso wie seine Stereotypen von amerikanischen Kleinstädten („out here“) und staatlicher Ordnungsmacht.

Ordnungsmacht, das nächste Stichwort. Man spricht auf deutsch in diesem Zusammenhang von „Staatsgewalt“, und in Abgrenzung zur „staatlichen Gewalt“ wird erst klar, was die deutsche Sprache der englischen voraushat: Eine Kenntlichmachung der Sinn-Nähe zwischen „power“ und „violence“. Die Mörder in Lynchs Film üben beides aus, und der Film zeigt überdeutlich, dass ersteres – die Macht – das Motiv für zweiteres ist: Sie tun es, weil sie es können. Den Fehler, das kleine Mädchen ihres Filmes nach dem „Warum“ fragen zu lassen, begeht Lynch allerdings nie – noch etwas, was sie von ihrem Vater abgeschaut hat. Auch „Unter Kontrolle“ – der eigentlich besser passende deutsche Titel – hat es nicht nötig, seinen Plot noch zu erklären.

Soweit der Titel im deutschen Verleih. Im Original heißt der Film „Surveillance“, also Überwachung, Beobachtung. Anfangs scheinen die Verhörmethoden des FBI-Agentenpaares seltsam, packen sie doch die drei Mordzeugen in getrennte Zimmer und lassen sie gleichzeitig von Polizeibeamten befragen. Agent Hallaway sitzt in seinem control room, vor einem Schaltpult, drei Videomonitoren und einem Mikrofon, und gibt immer wieder Anweisungen. „Sam, go easy“, fordert ihn seine Partnerin (Julia Ormond) noch auf, bevor sie sich zur neunjährigen Stephanie setzt. Sam beobachtet das Geschehen, sieht zu, wie auf die Zeugen Druck ausgeübt wird und verstärkt dabei selbst als anonyme Lautsprecherstimme und unsichtbarer Beobachter diesen Druck noch. Seine Regungen dabei: Irgendwo zwischen erregt und unbehaglich, und wieder wird klar, dass „Surveillance“ der Familie Lynch entstammt. Voyeurismus ist auch bei David ein immer wiederkehrendes Thema. Einmal bekommt Stephanie die Gelegenheit, über die Videomonitore die beiden FBI-Agenten beim heimlichen Turteln zu beobachten, so wie Kyle MacLachlan Rossellini und Hopper in „Blue Velvet“ aus dem Wandschrank zusehen muss.

Das „Rashomon“-Konzept, das sich zu Beginn noch andeutet, führt sich schnell selbst ad absurdum. Lynch geht es hier keineswegs um den gleichen Diskurs. Früh in den Verhören wird klar, dass sich die unterschiedlichen Zeugen gar nicht gegenseitig in ihren Aussagen widersprechen, sondern lediglich sich selbst. Während wir ihre Aussagen hören, sehen wir gleichzeitig die Geschehnisse, und die Bilder entsprechen nur marginal den Worten. Das wirkt auf den ersten Blick wie ein ironisch-zynisches Spielchen um coole Euphemismen, wie in den Rückblenden der „Boondock Saints“. Tatsächlich prallen aber die Zeugenaussagen auf die Gedanken Agent Hallaways. Ohne trennende Kamera-Monitor-Konstruktionen tritt Pullmans Charakter etwas schüchtern auf, wird unterschätzt. Das passierte auch schon Agent Cooper in „Twin Peaks“. Und auch “Unter Kontrolle” könnte dieses Schicksal ereilen. Unter dessen sperriger Oberfläche verbirgt sich ein clever kalkulierter Genrebeitrag.

Unter Kontrolle
(Surveillance, USA/Deutschland 2007)
Buch und Regie: Jennifer Chambers Lynch; Kamera: Peter Wunstorf; Schnitt: Daryl K. Davis; Musik: Todd Bryanton
Mit: Julia Ormond, Bill Pullman, Pell James, Ryan Simpkins, French Stewart, uvm.

Kinostart: 31. Juli 2008
Verleih: Warner Bros.

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