Sozial-experimentelles Drama

Marek (Benoît Magimel) und Mimmo (Bruno Putzulu) wohnen nebeneinander in einer grauen, hässlichen Reihe von Häusern. Sie arbeiten beide unter Tage, kommen als schwarze Menschen zurück von ihrer Schicht. Danach hängen sie mit anderen Bergarbeitern ab: Bier trinken, am Spielautomaten sitzen, den Puff besuchen. Das Leben in einem „Zechenkaff“ in Lothringen Mitte der 90er ist scheiße. Alle wissen, dass ihr Job nur noch auf Zeit ist.

Marek und Mimmo haben wenigstens einander als Freunde, können sich ob des anderen Abstammung (polnisch und italienisch) scherzhaft äußern. Der Ton ist rau, aber nicht gefährlich. Freddy (Alexander May) gibt es auch noch. Ein dauerbesoffener Invalider, den die beiden Freunde aufgrund seiner skurrilen Kauzigkeit lieb gewonnen haben. Wenn er einmal nicht von einer „Schwarzen“ und einer „Roten“ zum Besteigen träumt, könnte es sein, dass die traumatischen Ereignisse des Schichtunglücks wieder hervorbrechen, bei denen Mareks Vaters ums Leben kam – „Ich habe in meinen Blaumann geschissen“, sagt er dann. Marek hat noch Hoffnung, der Tristesse mit gesellschaftlichem Engagement entgegentreten zu können. Er muss erfahren, dass auch die Gewerkschaft mit verlogenen Mitteln kämpft. Mimmo hingegen interessiert sich nicht sonderlich für den Streik, der gerade vorbereitet wird. Er meint, seine Bekanntschaft mit dem Zuhälter Jäger (Rüdiger Vogler) würde ihm aus dem sozialen Moloch befreien. Der bringt seine Prostituierten gerne betäubt im Kofferraum über die deutsch-französische Grenze und scheint Mimmo ebenfalls in seine speziellen Pläne einbeziehen zu wollen …

1.jpgFlorent Emilio Siris („Hostage“) Spielfilmdebut ist ein interessanter Beitrag zum Sozialdrama. Denn in gewisser Weise entzieht es sich der Sozialität – oder, um es enger zu fassen: der Milieustudie. Der Kontext um die wirklichen Ereignisse der Schließung der Merlebacher Zeche, auf denen dieser Film basiert, bleibt weitestgehend verschlossen. Die Perspektivierung auf Marek und Mimmo macht uns mit einem sehr privaten Standpunkt vertraut, der in gewisser Weise unpolitisch ist. Insofern werden die Paratexte des DVD-Covers, der deutsche Titel und die Werbezeile, Lügen gestraft. Die Seite der Arbeitgeber ist hier in keiner Weise vertreten oder erklärt, was eine soziale Strukturschau nicht möglich macht. Nur gegen Ende erscheinen vor der Polizeiwand zwei Anzugsmenschen vom Direktorium, die die streikenden Demonstranten bitten, sich aufzulösen – ganz einfach, weil sie sich auf privatem Gelände versammelt haben.

2.jpgSucht „Ende der Geduld“ die Kritik an diesen gesichtlosen Männern der Geschäftleitung oder der brutalen Gewalt, mit der die Polizei bei der Eskalation des Streiks durchgreift? Nein, dem würde ich widersprechen. Siris Film ist an Gründen nicht interessiert und an Kritik ebenfalls nicht. Er ist an einem Status interessiert. Diesen bringt er durch einen Realismus hervor, der ganz im Sinne André Bazins Ideen funktioniert: Auflösung von Handlung in Episoden, die für sich stehen und keinem übergreifenden Konzept gehorchen. Das Streifen der Freunde durch Merlebach und seine Räume, die im Übrigen eine brilliante Lebendigkeit ausstrahlen. Die Lebendigkeit nimmt ihnen keinesfalls ihre Trostlosigkeit, sie pointiert diese hingegen. Auch wenn die Freundschaft als warmes, unbeschwerliches Element (welches selbstredend vor harte Proben gestellt wird) inszeniert wird, ist es doch kalte Monotonie, die herrscht.

3.jpgNeben diesem Realismus begnügt sich Siri mit abstrakteren Experimenten auf Bild- und Tonebene, die eine gewisse Spannung zu den realistischen Strukturen aufbauen. Die Schächte der Zeche präsentiert er als eine fremde Welt, durch das ewig gleiche, futuristisch verzerrte Geräusch der Kohleabbaumaschine bestimmt. Ein ähnlich fremdes, tief-sonores Geräusch kann man vernehmen, als die Einsatzfahrzeuge der Polizei ein auffälliges Gegenlicht bei der Überquerung einer Brücke streifen. Und die Figur Jäger ist letztendlich eine Art Antiprinzip des Films – als Stereotype des Unterhaltungsgenres will er sich mit seiner Waffe und gestelzt-fiesen Auftreten nur schwer im Film einfinden. Passend dazu entwirft Komponist Alexandre Desplat („The Queen“, „The Golden Compass“) thriller-typische, unheimliche Passagen, die dann in der melancholischen, vom Geiste Morricones geprägten Musik der umherziehenden Freunde wiederum ihre Antithese finden. Der Film lebt von diesen formalen Brüchen und seiner Mut zum bewussten Experimentieren. Inwiefern dies zu seiner Porträtierung von aussichtsloser Existenz beiträgt, ist schwierig zu sagen – der harte und konturierte Ton dieses ungewöhnlichen Sozialdramas wird dadurch nun keinesfalls geschmälert …

Ende der Geduld
(Une minute de silence, Frankreich 1998)
Regie & Buch: Florent Emilio Siri; Kamera: Giovanni Fiore Coltellacci; Schnitt: Joëlle Dufour; Musik: Alexandre Desplat
Darsteller: Benoît Magimel, Bruno Putzulu, Jean-Yves Chatelais, Andrea Schieffer, Alexander May, Eric Savin, Olivier Parenty u. a.
Länge: 78 Minuten
Verleih: epiX

Die DVD von epiX

Es liegt nur der synchronisierte Ton vor (in Stereo). Die Bildqualität ist mittelmäßig, eine befriedigende Schärfe und ein ständiges, leichtes Blockrauschen schmälern den Gesamteindruck. Die Extras sind mager und nicht der Rede wert: vier Textbiographien zu Regisseur, Komponist und den Darstellern Benoît Magimel und Rüdiger Vogler sowie fünf Aushangfotos.

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Sprache: Deutsch (DD 2.0)
Bild: 16:9
Specials: Biografien von Florent-Emilio Siri, Benoît Magimel, Rüdiger Vogler und Alexandre Desplat, Kino-Aushangfotos, Epix-Trailershow
FSK: ab 16 Jahren
Preis: 21,99 Euro

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Benjamin Kausch

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