Reise nach Kandahar

Regisseur Makhmalbaf musste sich bei der Vorstellung seines Films bei den Festspielen in Cannes im Mai 2001 noch fragen lassen, warum er ein so unwichtiges Thema wie Afghanistan für seinen neuen Film gewählt habe. Nach dem 11. September war das Land in aller Munde, und heute? Sicher findet man in der Presse und den Medien immer noch Meldungen, Berichte und Artikel zu Afghanistan. Aber sobald eine irgendwie geartete Friedensregelung für das Land greifen sollte …

Die aus Afghanistan stammende und in Kanada im Exil lebende Journalistin Nafas (Niloufar Pazira) reist aufgrund eines erschütternden Briefes ihrer Schwester aus Kandahar, die darin ankündigt, sich wegen der unmenschlichen Lebensbedingungen bei der nächsten Sonnenfinsternis das Leben nehmen zu wollen, an die iranisch-afghanische Grenze. Nafas will versuchen, in die afghanische Stadt zu kommen, bevor die Sonnenfinsternis eintritt.

Sie erreicht, dass ein Afghane sie als seine dritte Frau ausgibt und mitnimmt. Verhüllt in die für Frauen verpflichtende Burka macht sie sich auf den Weg. Nafas kennt kein Zurück, kein Hindernis ist ihr zu schwierig, als dass sie nicht nach einer Lösung sucht, um rechtzeitig in Kandahar anzukommen. Sie zeichnet alle Eindrücke, Erfahrungen, die sie auf der Reise macht, auf Tonband auf. Der Film schildert nicht so sehr die direkte Konfrontation mit den Taliban als vielmehr die ständig in den Gesichtern, dem Verhalten der Menschen, vor allem der Frauen, sichtbare Angst, es könnte dies oder jenes passieren, wenn man sich nicht an die Spielregeln hält.

Auf was trifft sie? Auf eine Schule, in der Jungen zu Mullahs ausgebildet werden, einen Arzt (Hassan Tantaï), dessen Patientinnen von ihm durch einen Vorhang getrennt sind, in dem sich lediglich ein etwa mundgroßes Loch befindet, durch das er ihnen in die Ohren, den Mund usw. schauen kann. Er redet nicht direkt mit den Frauen sondern über eine dritte Person. Dann ist da noch Khak (Sadou Teymouri), der Junge, der nur hinterm Geld her zu sein scheint, der gelernt hat, irgendwie zu überleben, alles verkaufen will, selbst den Ring, den er dem Skelett einer toten Frau abgenommen hat. Nafas lässt sich durch all dies von ihrem Ziel nicht abbringen. Sie will nur eines: ihre Schwester retten. Sie fordert Tabib Sahib, den Arzt, auf, ihr Gründe auf das Tonband zu sprechen, warum sich ihre Schwester nicht umbringen soll, Gründe zum Weiterleben. Aber ob sie Kandahar jemals erreichen wird?

Makhmalbafs halb dokumentarischer Film besticht durch seine erzählerische Kraft. »Reise nach Kandahar« ist nicht – wie einige Kritiker schrieben – »ein überlanger Spendenaufruf an das dumpfe Allgemeinmenschliche« (Die Welt vom 28.1.2001), sondern ein filmisches Dokument, das sich jeglicher Zeigefingermentalität enthält.

Das bildhaft-erzählerische Moment wird ergänzt durch eine starke Symbolik. Die Schönheit des Landes, der Frieden, der scheinbar unter dem wolkenfreien blauen Himmel, über der Wüste, den kahlen, zerklüfteten Bergen liegt, wird konterkariert durch die angstvolle Stimmung, die Ahnung davon, unter welchen Bedingungen Menschen hier leben müssen.

Nafas, die aufgeklärte Journalistin erscheint, wenn sie die Burka lüftet wie eine moderne Sheherezade, schön, bezaubernd, anziehend, die mit dieser Schönheit und einer zutiefst menschlichen List einen anderen Menschen retten will, sich in das Gewand hüllt, das Ausdruck der Unterdrückung der Frauen ist, um den Taliban ihre Absicht und Identität nicht zu offenbaren. Nafas ist das U-Boot; sie führt einen Krieg, aber einen ohne Schusswaffen. Nafas schwimmt wie ein Fisch im Wasser, im Feindesland, dessen Feinde sie sich nicht ausgesucht hat, sondern die sich selbst zu Feinden gemacht haben.

Makhmalbaf setzt auf diese Kraft, das sanfte, aber nichtsdestoweniger energische Vermögen, einen einzigen Menschen vor dem Tod, der Verzweiflung, der Bitterkeit und der Hoffnungslosigkeit zu retten. Niloufar Pazira ist übrigens für diese Rolle wie geschaffen. Ihre Augen sprechen von hoffnungsvoller Erwartung, aber auch Traurigkeit nicht nur über das Schicksal der Afghanen, sondern bedingt auch durch die realistische Angst, ihre Schwester möglicherweise nicht mehr rechtzeitig zu erreichen.

Makhmalbaf konstruiert keine Geschichte; er schildert, erzählt in beeindruckend dichten Bildern den Weg einer Unbeirrbaren. Dieser Weg nach Kandahar ist das Wesentliche, sonst nichts. Der Film spielt aber deswegen – und im Angesicht der Ereignisse nach dem 11. September – nicht im politischen Abseits. Nur kommt er nicht einer weit verbreiteten, für wahr gehaltenen Illusion entgegen, man müsse die politischen Realitäten anerkennen, die doch nur darin bestehen, zu taktieren, strategische Spielchen auf Kosten der Afghanen oder wem auch immer und im ausschließlich eigenen Interesse zu betreiben, usw. usf., um »Fortschritt« zu erreichen; der Streifen enthüllt gerade diese Illusion von »Realpolitik« als eine zutiefst inhumane Variante unseres Zeitalters.

»Reise nach Kandahar« ist ein starker Film; Nafas siegt, weil sie ihren Weg geht. Und zugleich ist es ein schwacher Film, denn er zeigt die Schwäche, die Hilflosigkeit, die Ratlosigkeit und auch die (bewusste) Tatenlosigkeit der sich selbst zivilisiert titulierenden Welt gegenüber einer Entwicklung wie in Afghanistan der letzten Jahre. Eine moderne Sheherezade macht noch keinen Frieden, aber sie ist mehr als nur Sinnbild einer anderen Perspektive.

Die Ironie der Geschichte will es, dass Hassan Tantaï laut einem Bericht des amerikanischen Fernsehsenders ABC von der US-Regierung verdächtigt wird, der Terrorist David Belfield zu sein, der vor über zwei Jahrzehnten einen Sprecher der damaligen iranischen Botschaft in Washington ermordet haben soll.

Reise nach Kandahar
(Safar e Ghandehar)
Iran 2001, 85 Minuten
Regie: Mohsen Makhmalbaf
Hauptdarsteller: Niloufar Pazira (Nafas), Hassan Tantaï (Tabib Sahib), Sadou Teymouri (Khak)

Ulrich Behrens

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