Psychoanalyse (und Film)

1895 war für die Kulturgeschichte ein bedeutsames Jahr. Sigmund Freud veröffentlichte zusammen mit Josef Breuer die „Studien zur Hysterie“ und begründet damit die Psychoanalyse. Die Brüder Lumière führten im Grand Café in Paris einen Film öffentlich vor und begründen damit das Kino. Auf dieses gleichzeitige Geburtsjahr von Kino und Psychoanalyse ist oft hingewiesen worden. Und beider Entwicklung verlieft in gewisser Hinsicht seit dem „parallel“ – beide beeinflussten sich gegenseitig. In der sechsten Auflage von Wolfgang Mertens mittlerweile kanonischem psychologischen Einführungswerk „Psychoanalyse“ ist daher konsequenterweise ein Filmkapitel hinzugekommen.


Mertens Agenda ist eine Rehabilitation der Psychoanalyse – sowohl innerhalb der Psychologie als auch im Kanon der Kulturtheorien. Immernoch sei der längst überholte Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“ ein Hinderungsgrund, der Psychoanlyse die gebotene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Mertens referiert diesen Diskurs in der Einleitung des Buches, benennt Literatur, die sich mit dem Thema befasst und wagt schließlich auch einen Gegenschlag gegen die akademische Psychologie: „Faktisch ist die Mainstream-Psychologie zwar karreiresichernd, hat dafür aber nur sehr selten wirklich innovative, ideologiekritische und politisch mutige Fragestellungen aufgegrifen und beforscht.“ (16) Die Psychoanalyse sei hingegen immer schon genuin eine radikale Theorie gewesen, da sie sich eben mit dem nicht sofort Evidenten beschäftigt – dem Unbewussten, den Übertragungsphänomenen, ja selbst mit der Abneigung gegen die Psychoanalyse (vgl. S. 18). Mertens bleibt jedoch nicht beim Abschreiten von Grenzen und der Neuformulierung „methodologischer Attacken“, sondern fordert „die Anschlussfähigkeit psychoanalytischer Diskurse an interdisziplinäre Auseinandersetzungen, aber nicht unbedingt an universitäre Diskurse, sofern man unter diesen immer noch ausschließlich die Herstellung empirisch positivistisch überprüfbarer Hypothesen verstehen sollte, mit dem Ziel ihrer größten Verallgemeinerbarkeit.“ (19). Eine solche interdisziplinäre Auseinandersetzung beschreibt er im Anwendungskapitel des Buches: „Film und Psychoanalyse“.

Gründe zur psychoanalytischen Auseinandersetzung mit dem Medium Film gibt es genug. Sie reichen vom vertiefenden Verstehen der Erzählungen und Figuren bis hin zu „therapeutischen Effekten“ (215) auf den Betrachter. Doch die Vorgehensweise dieser Form der Filminterpretation verlangt ein hohes Maß an Methoden- und Medienkenntnis. Mertens zeichnet die verschiedenen Herangehensweisen von der Analyse der Erzählung über die Betrachtung der Biografie des Regisseurs bis hin zur psychoanalytischen Interpretation von Filmstilistiken nach. Er verweist dabei auf psychoanalytische wie filmtheorertische Literatur und kennzeichnet Stärken und Schwächen von verschiedenen Positionen. Besonders ist ihm die Abweisung zweier immer wieder auftauchender und stets kritisierter Verfahren gelegen: dem „Biografismus“ und dem „Objektivismus“. Ersterer findet sich bereits bei Freud in den Künstleranalyse (etwa Leonardo da Vincis oder Goethes) letzerer scheint aus diesem Biografismus aber auch der Apodiktik, mit der psychoanalytische Argumentation bisweilen daherkommt, herzurühren: Erkenntnisse, die über den vermeintlichen Autor des Films durch Psychoanalyse gefunden werden, liefern „absolute Wahrheit“ – pathologisieren den Künstler aber nicht selten und vernachlässigen den Zuschauer fast immer. Mertens lehnt dies nachdrücklich mit Verweis auf die Ungültikeit solcher Analyse ab.

Doch die Verbindung von Gegenstand und Theorie ist auch umgekehrt: Ein regelreichter „Dialog ziwschen Kino und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert“ (217) fand und findet immer noch statt. In ihm geht es um die Darstellung von theorie, Theoretikern, Therapie und Therapeuten in Film aber auch um die sich immer weiter ausdifferenzierenden und professionalisierenden psychoanalytischen Erzählverfahren, die als fortschreitende Affirmation der Theorie durch die Kunst zu verstehen sind. Mertens schreibt hier keine trockene Einführung, sondern unterfüttert seine Thesen stets mit Filmen. Jane Campions „Das Piano“ ist ihm dabei besonders oft ein Beispiel, aber auch Antonioni, Hitchcock, Bergman, die Coens und Resnais liefern ihm passende Filme für seine Ausführungen.

Das, was Mertens schreibt, ist keineswegs neu. Aber das ist auch nicht Anliegen seiner Schrift, die zwar keine Einführung in psychoanalytisches Denken sein will, doch eine Einführung in psychoanalytische Praxis (und sich deshalb mehr an Psychoanalytiker als an Laien richtet). Mertens Buch konzentriert sich viel mehr darauf, die Methode, deren Erweiterung und Anwendung historisch, jedoch immer nahe am Analyse-Objekt (hier diskutiert: am Film) so nachzuzeichnen, dass sich bereits in der Theorie geschulte Leser auf dem weiten Feld der Anwendung zurechtfinden können. Dieser Vorsatz ist dem Autor gelungen. Zu keiner Zeit bekommt man den Eindruck, hier schriebe ein Psychoanalytiker mit spitzen Fingern über „angrenzende Felder“. Mertens sitzt fest im Sattel der Filmtheorie und liefert stets einschlägige Literaturhinweise. Daher ist sein Buch genauso Filmwissenschaftlern zu empfehlen, die nur wenig Interesse an der klinischen Anwendung der Psychoanalyse haben, mehr jedoch an exakter psychoanalytischer Interpretation von Filmen.

Wolfgang Mertens
Psychoanalyse. Grundlagen, Behandlungstechnik und Anwendung
Stuttgarg: Kohlhammer 2004
(Kohlhammer Urban Taschenbücher, Nur. 337)
289 Seiten (broschiert)
18,00 Euro

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