Mutter ist die Beste

Zwei Mädchen, in einem dunklen Keller, lehnen sich über staubige Kisten. Gleich werden sie mit einem Gürtel geschlagen werden, eine Erziehungsmaßnahme, die in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht unüblich ist. Doch die Ausführende ist nicht die Mutter der beiden Mädchen und der Grund für die Bestrafung eine um einen Tag verspätete Unterhaltszahlung. In diesem fatalen Moment bietet das ältere Mädchen an, die Schläge für ihre jüngere Schwester zu übernehmen; sie zeigt Opferbereitschaft und besiegelt damit ihr Schicksal. Drei Monate später wird sie im selben Keller sterben, abgemagert, gefoltert und gebrandmarkt.

Indianapolis im Juli 1965: Das Schaustellerehepaar Likens überlässt aus beruflichen Gründen für eine wöchentliche Unterhaltszahlung von 20 Dollar ihre beiden Töchter Sylvia und Jenny der sechsfachen alleinerziehenden Mutter Gertrude Baniszewski. Am 24. Oktober 1965 reagiert die örtliche Polizei auf einen anonymen Anruf, dass im Haus der Baniszewskis ein totes Mädchen liege. Die Tote, mit einer Brandtätowierung auf dem Bauch – „Ich bin eine Prostituierte und stolz darauf“ –, ist die 16jährige Sylvia Likens. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Jenny flüstert dem eintreffenden Polizisten zu: „Holen Sie mich hier raus, dann erzähle ich Ihnen alles.“

Der biblische Sündenbock ist ein bemitleidenswertes Tier, dem alle Sünden des Volkes Israel auf den Rücken gebunden wurden, um es dann in die Wüste und damit zu Gott zu schicken. Das Bedürfnis nach einem solchen Wesen, dem wir alles aufbürden dürfen, um uns frei zu fühlen, ist also so alt wie das Bedürfnis nach Regeln, die uns sagen, was Recht und was Unrecht ist. Gertrude Baniszewski, erschöpft vom Leben mit sechs Kindern ohne Vater, geschwächt von Krankheit und enttäuscht von den Ergebnissen ihrer mangelhaften Erziehung, findet im Teenager Sylvia ein Gefäß für ihre überfließende Verzweiflung. Angestoßen von einer unüberlegten Racheaktion der ältesten Tochter Paula, die die negative Aufmerksamkeit von sich selbst ablenken will, beginnt die Mutter, Sylvia willkürlich und ungeprüft zu beschuldigen und zu bestrafen. Weil Sylvia sich nicht wehrt – weil sie verwirrt ist, ihre kleine Schwester beschützen will und auf Erlösung durch die Rückkehr der Eltern hofft – und sogar Entschuldigungen ausspricht, für die es keinen Anlass gibt, erscheint es unausweichlich, dass Gertrude ihr stetig mehr Schuld am eigenen Leid aufbürdet. Ihre Kinder, auch Jenny, die Schwester, sind zunächst sichtlich froh, dass die offenbar nicht unübliche Bestrafung nicht sie selbst trifft, bald aber leben sie an der Entmenschlichten ihre kindliche, sadistische Neugier aus und profilieren sich mit ihr wie mit einem neuen Spielzeug. Für die Jugend der Nachbarschaft ist es schließlich ausreichend, dass eine Erwachsene die Demütigung des Mädchens gutheißt, sogar fordert, um jegliches eigenes Nachdenken über Recht oder Unrecht beiseite zu schieben – und die rationale Ignoranz der Umgebung erlaubt ihnen den Schluss, dass ihr Verhalten zumindest nicht falsch ist.

Ohne sie von ihrer Verantwortlichkeit freizusprechen, ist es Regisseur Tommy O’Haver gelungen, der Täterin Gertrude Baniszewski ihre menschlichen Eigenschaften zu lassen – in einem Moment mystischer Klarheit dankt sie der sterbenden Jugendlichen sogar für ihr „Verständnis“ – und ihre Mittäter, Kinder und Jugendliche, nicht als Psychopathen darzustellen. Stattdessen werden die Motive und moralischen Defizite der einzelnen Beteiligten differenziert und mit Einsicht in den menschlichen Makel gezeichnet. Verdrängung, Fremdaffirmation, Schuldbewusstsein, Gruppenzwang, Autoritätshörigkeit – all dies sind psychische und soziale Mechanismen, von denen sich kein Mensch gänzlich freimachen kann, denen wir nur in unterschiedlichem Maße unterliegen oder widerstehen. Wir lernen von den Vorbildern, die sich uns bieten, und von der Gesellschaft, in der wir leben; dabei spielt stille Toleranz eine ebenso große Rolle wie direkte Aufforderungen.

Der Film An American Crime basiert auf diesem tatsächlichen Verbrechen und interpretiert die Ereignisse, die sich im Baniszewski-Haus abspielten, unter teilweiser Verwendung der Zeugenaussagen, die im 1966 folgenden Prozess gemacht wurden. Ein Film, der wie dieser inspiriert ist von einem wahren Verbrechen, bewegt sich stets auf heiklem Terrain. Eine emotionale Einlassung auf die Beteiligten in einem Mordfall mag zu einseitiger Darstellung verführen: das Opfer unschuldig, der oder die Täter bösartig, unmenschlich, abartig. So kann, im schlechtesten Fall, aus der Geschichte um ein gefoltertes, verhungertes, totgeschlagenes Mädchen ein Melodram werden, eine Gruselgeschichte, eine Moritat. Im besten Fall aber kann daraus eine Erörterung von Schuld und Menschlichkeit werden, eine empfindsame Darstellung von Gegebenheiten, Ereignissen, seelischen Konflikten und unaufhaltsamen Entwicklungen. O’Haver hat mit „An American Crime“ diesen Balanceakt fertiggebracht, mit so viel Treue zu den Fakten wie nötig und so viel narrativer Freiheit wie möglich, und dank auch der einnehmenden, ohne Zurückhaltung agierenden Ellen Page und Catherine Keener. Das Opfer ist im Film vielleicht engelhafter als es die tatsächliche Sylvia Likens war, und eine hoffnungsvolle Errettungssequenz mag als falsche Fährte und reine Spekulation verwirren oder verärgern. Doch beides zählt zu den erzählerischen Mitteln, die sich der Film erlauben darf, sogar muss, um den Zuschauer ganz in seine Diskussion zu verwickeln. Denn während vor Gericht nach der Schuldigen an Sylvias Tod gesucht wird, ist es genau diese verzweifelte Suche nach jemandem, der Schuld hat an allem Elend, die sie das Leben gekostet hat.

An American Crime
(An American Crime, USA 2007)
Regie: Tommy O’Haver, Drehbuch: Tommy O’Haver, Irene Turner, Kamera: Byron Shah, Musik: Alan Ari Lazar, Schnitt: Melissa Kent
Darsteller: Ellen Page (Sylvia Likens), Catherine Keener (Gertrude Baniszewski), Ari Graynor (Paula Baniszewski), Bradley Whitford (Staatsanwalt Leroy New), James Franco (Andy)
Länge: 93:30min.
Verleih: Capelight/AL!VE

Zur DVD von Capelight/AL!VE:

Bild und Ton sind nicht zu beanstanden, leider fallen die Extras mager aus: außer Trailern zu anderen Filmen findet sich kein weiterer Menüpunkt.

Zur Ausstattung der DVD:
Bild: 2,35:1 (16:9)
Ton: Deutsch DTS 5.1, Deutsch Dolby Digital 5.1, Englisch Dolby Digital 5.1
Extras: Trailer
Länge: 94min.
Freigabe: ab 16
Preis: 17,95€ (Steelbook-Edition)

Diese DVD bei amazon kaufen.

Leena Peters

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.